Gotthardbahn-Gesellschaft 1882. Foto: Wikipedia.

Eine grossartige Verfassung

Die Verfassung von 1848 markiert den Beginn einer rasanten Entwicklung der neuen Schweizerischen Eidgenossenschaft in fast allen Bereichen.

1815-1848

Aus dem Bund souveräner Kantone von 1815 wurde ein Bundesstaat mit drei politischen Ebenen: dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden.

Das Prinzip der souveränen Kantone blieb mit einem wichtigen Unterschied unverändert: Die Kantone (und das Volk) können Kompetenzen auf den Bund übertragen. (siehe Swiss Spectator vom 11. Dezember 2018, Eine kurze Geschichte der Verfassung und Die Kantone).

Bis 1848 war die Schweiz eine überwiegend landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft mit industriellen und kommerziellen Spitzenleistungen in den Bereichen Verlagswesen, Handel, Wissenschaft, Schokolade, Textilien, Uhren, Maschinen und Schiffsturbinen sowie einer beginnenden Tourismus- und Finanzdienstleistungsbranche.

Allerdings gab es noch keine industrielle Revolution und keinen Eisenbahnbau. In vielen Regionen herrschte Armut. Die Schweiz war, wie die meisten europäischen Länder,ein Auswanderungsland. Das Land hatte keine Einheit von Gewichten, Längen- und Breitenmassen, Münzen oder gar der Zeitmessung. Zwischen den Kantonen wurden Zölle erhoben und die Infrastruktur war unterentwickelt.

Auch verfügte die Schweiz über keine Rohstoffe (Kohle, Eisenerz). Mit einer wichtigen Ausnahme: Wasser und Granit, welche nach 1848 eine grosse Rolle spielten.

Es gab keine politische Stabilität, z.B. die Teilung Basels in die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft (1833), eine Art Bürgerkrieg im Kanton Wallis (zwischen Oberwallis und Unterwallis) und der Sonderbundskrieg von 1847.

Das Land war von Monarchien und aristokratischen Systemen umgeben. Tausende von politischen Gegnern Habsburgs, des russischen Zaren, der französischen und deutschen Könige und Grossherzöge agierten von Schweizer Boden aus gegen sie. Die europäischen Machthaber betrachteten die Schweiz als Hort der Anarchie und der politischen Extremisten.

Diese Verfassung, der Unternehmer- und Pioniergeist, die kosmopolitische und offene Mentalität, Bildung und Wissenschaft, Investitionen und Exportnetzwerke ermöglichten die schnelle Modernisierung und politische Stabilität nach 1848.

Eine Grossartige Verfassung

Die Verfassung war ein Meisterwerk zur richtigen Zeit am richtigen Ort in einem Land, das 1847 noch einen kurzen Bürgerkrieg erlebt hatte.

Der Staat schloss sofort Handelsverträge ab und die Unternehmer handelten mit der ganzen Welt. Grossbritannien wurde zu einem der wichtigsten Partner.

Der Schweizer Franken wurde eingeführt, die Maut zwischen den Kantonen verschwand und das Land wurde zu einem Binnenmarkt. Eisenbahnen, Chemie, Lebensmittel, Maschinenbau, Tourismus, Finanzdienstleistungen, (Elektro-) Technik und andere Infrastrukturprojekte veränderten das Land mit einer Generation.

Das Land war 1875 eine der modernsten (und mondänsten) Nationen und wurde unteranderem als Labor des Fortschritts bezeichnet.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft von 1848 basierte auf jahrhundertealten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, Austauschen, Erfahrungen und Systemen. Diese Eidgenossenschaft schuf die Voraussetzungen für die Modernisierung und die industrielle Revolution à la Suisse.

Die Verfassung von 1848 war kein Zufall, sondern ein ausgewogenes politisches System, das auf dieser „bottom up“ Kreation basierte. Der Leitgedanke war: Was ist möglich, nachhaltig und machbar in dem multikulturellen, multireligiösen und mehrsprachigen Land?

Die Rolle und Funktionen von Gemeinden, Kantonen und Bund, die beiden Kammern des Parlaments, die Demokratie, das Verhältnis von Wirtschaft und Staat, die internationale Politik, die Organisation und Finanzierung von Bildung, Krankenhäusern, Sozialsystemen oder Verteidigung wurden berücksichtigt.

Diese Verfassung erfuhr im Laufe von 150 Jahren verschiedene wichtige Anpassungen, aber die Prinzipien aus dem 19. Jahrhundert sind bis heute gültig, aktuell und relevant geblieben.

Direkte Demokratie, Föderalismus, Subsidiarität

Die stärksten Punkte sind die direkte Demokratie, der Föderalismus, die Subsidiarität und die notwendigen Anpassungen, oft langsam, aber sicher, Schritt für Schritt, aber immer in  Kommunikation mit den Bürger*innen, den Unternehmer*innen und den Kantonen und nie als von oben auferlegte Massnahmen, top-down.

Deshalb dauert es auch so lange, bis Ausländer mit festem Wohnsitz die Staatsbürgerschaft erhalten: Die Staatsbürgerschaft muss verdient werden und ist kein Recht.

Das Wahlrecht für Frauen wurde spät eingeführt (1971). Nicht, weil das Land frauenfeindlich ist. Im Gegenteil: Schon 1870 studierten Frauen an Universitäten und waren im gesellschaftlichen und politischen Leben (Vereine) aktiv. (Siehe auch Swiss Spectator, Fünfzig Jahre Frauenstimmrecht).

Aber einmal in Gang gesetzt, geht die Modernisierung schnell und effizient voran, wie z.B. das hohe Niveau und die Spitzenpositionen von Politikerinnen, die Kreativität im Kunstbereich und die hohe Anzahl von weiblichen Start-ups zeigen.

Schlussfolgerung

 Hundert Jahre vor der Gründung der Europäischen Union, hat die Schweiz die Grundlagen für Wohlstand und Stabilität geschaffen. Auch die Kontinuität und das Wirtschaftswachstum nach 1960 beruhen auf diesen Voraussetzungen. Das Schweizer Modell lässt sich nicht relativieren, auch nicht auf europäischer Ebene. Das Land ist ein Global Player und eine Oase in der Mitte Europas.

Quelle: J. Jung, Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert (Basel, 2019).