Glarus, Landsgemeinde. Foto: Glarus, Museum zur Landsgemeinde.

Die Landsgemeinde von Glarus

Die Ursprünge der Landsgemeinde liegen im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert. Die erste Landsgemeinde wurde 1294 urkundlich in Schwyz erwähnt. Die erste Erwähnung im Glarnerland stammt aus dem Jahr 1387.

Geschichte

Die Landsgemeinde hat ihren direkten Ursprung in der Beilegung von Streitigkeiten zwischen und innerhalb der Orte Schwyz, Unterwalden und Uri, sowie in Vereinbarungen über Weideland, Handel und andere wirtschaftliche Themen.

Die freien Bauern organisierten sich in so genannten Markgenossenschaften, um gemeinsames Weideland zu bewirtschaften.

Wichtig war auch die Eröffnung des Gotthardpasses in den Jahren 1220-30.  Der Handel mit Norditalien und seinen Stadtrepubliken nahm dramatisch zu.

Vielleicht waren diese souveränen Republiken eine Inspiration für die Orte, die direkt an diesem Handel teilnahmen und Zugang zu Norditalien hatten.

Darüber hinaus wurde den Orten im vierzehnten und frühen fünfzehnten Jahrhundert vom habsburgischen Kaiser der Status eines de facto unabhängigen Territoriums, der Reichsunmittelbarkeit, verliehen. Ausserdem erlitt der Kaiser gegen die widerspenstigen Orte eine militärische Niederlage nach der anderen, angefangen mit der Schlacht am Morgarten im Jahr 1315.

Die erste urkundliche Erwähnung der Landsgemeinde von Glarus im Jahre 1387 war auch die erste Verfassung von Glarus.

Der Begriff Landsgemeinde taucht übrigens erst im fünfzehnten Jahrhundert auf. Im Jahr 1387 ist die Rede von der „Gemeinde der Landleute“.

Das Stimmrecht wurde allen männlichen Bürgern zugestanden, die ihren Militärdienst abgeleistet hatten (über 14 oder 16 Jahre alt) und in Glarus wohnhaft waren.

Die Verfassung enthielt zwei wichtige Bestimmungen: das Prinzip, dass die meisten Stimmen zählten, und dass die Landsgemeinde immer das letzte Wort hatte, d.h. die einzelnen Bürger waren der Souverän und nicht einige wenige (mächtige) Familien oder Funktionen.

Obwohl die Landsgemeinde nach heutigen Massstäben schwerwiegende Mängel aufweist und die politische Realität, einschliesslich des Stimmenkaufs, oft weniger demokratisch war, war sie eine einzigartige Institution in Europa. Nirgendwo sonst hatte der einzelne Bürger das letzte Wort.

Die Landsgemeinde bestimmte die Ämter (u.a. Rat, Landammann, Richter, Steuereintreiber), war Gesetzgeber (Steuerhöhe, Erbrecht, Zivil- und Strafrecht), schloss (Staats-)Verträge mit anderen Orten und europäischen Mächten und entschied über Krieg und Frieden.

Reformation 1529

Die Landgemeinde hat sich während der Reformation als nützlich erwiesen. Während das übrige Europa in Flammen stand, beschlossen die Glarner Bürger in der Landsgemeinde 1529, dass beide Religionen (evangelisch und katholisch) erlaubt seien.

Die Bürger und ihre Kirchengemeinden entschlossen selbst über ihre Religion. Das Ergebnis war ein mehrheitlich katholischer Nordteil des Kantons und ein mehrheitlich protestantischer Südteil. Der Grundsatz der Religionsfreiheit wurde 1532 sogar in die Verfassung aufgenommen.

Auch dies war im Europa des sechzehnten Jahrhunderts einzigartig. Andere Kantone haben in ähnlicher Weise entschieden. In Zürich stimmte die Regierung (Grosser Rat) für die Einführung des protestantischen Glaubens, in Appenzell beschlossen die Bürger 1597 die Spaltung in ein katholisches Appenzell Innerrhoden und ein protestantisches Appenzell Ausserrhoden.

Die Eidgenossenschaft (die dreizehn Kantone von 1501) erlebte zwar 1529 und 1531 (Kappelerkriege) sowie 1656 und 1712 (Villmergerkriege) einige religiös motivierte militärische Kurzkonflikte, doch sie waren im Vergleich zu den (Bürger-)Kriegen im übrigen Europa nur eine Kleinigkeit.

Natürlich führte das Entstehen zweier Religionen zu grossen (persönlichen) Spannungen, ein katholischer und ein protestantischer Bäcker oder Metzger zum Beispiel. Die Versäulung war auch hier Realität. Das politische System war jedoch in der Lage, den Frieden zu bewahren, was der  einzigartige Verdienst der Landsgemeinde und ihrer Bürger ist.

1798-2021

Die Landsgemeinde funktionierte bis zur Gründung der Helvetischen Republik 1798 durch die französischen Besatzer. Sie wurde abgeschafft.

Dies führte in Glarus (und den anderen 12 Kantonen) zu so viel Widerstand, dass Napoleon 1803 mit der sogenannten Mediationsakte die Eidgenossenschaft (1803-1813) souveräner Kantone, darunter auch die Landsgemeinde von Glarus, wieder einführte.

Die Glarner Landsgemeinde besteht seit 1815 und der Gründung der heutigen Schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahr 1848. Zusammen mit der Landsgemeinde von Appenzell Innerrhoden ist sie  das letzte „grösste Parlament“ der Welt.

Die Funktionsweise

Die Funktionsweise, die Symbolik, das Abstimmungsverfahren (Handerheben mit Stimmzetteln) und die Befugnisse des Parlaments haben sich nicht wesentlich geändert. Was sich geändert hat, ist die Zusammensetzung (mit Frauen ab 1971) und die Abstimmung über viel mehr Aufgaben.

Die Landsgemeinde tagt am ersten Sonntag im Mai (ausser in dieser Corona-Zeit am 5. September 2021) im sogenannten Ring auf dem Landsgemeindeplatz. Es nehmen zwischen 6.000 und 9.000 Wähler teil (Aus einer Bevölkerung von etwa 30 000 Stimmberechtigten).

Die Tagesordnung und die Themen werden im Voraus in so genannten Traktandenlisten verschickt, und die Stimmberechtigten können Redezeit beantragen, Änderungen vorschlagen oder Gesetzesvorlagen einbringen. (Siehe : www.landsgemeinde.gl.ch).

Die Regierung wird direkt von den Bürgern an der Urne gewählt. Das kantonale Parlament (Landrat) hat begrenzte Befugnisse und ist eher ein Exekutivorgan für die täglichen Angelegenheiten und kein Gesetzgeber. Er wird auch in direkter Wahl and er Urne gewählt.

Diskussion

Die Landsgemeinde stösst nicht nur auf grosses (internationales und wissenschaftliches) Interesse, sie steht auch im Zentrum der Diskussion über Vor- und Nachteile.

Wie so oft gibt es viele Argumente, die für beide Sichtweisen sprechen. Sicher ist, dass sich dieses Institut weiterhin an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen muss.

Die am häufigsten genannten Mängel sind die geringe Wahlbeteiligung am Wahltag selbst (etwa 30 % der Wahlberechtigten), das Fehlen geheimer Abstimmungen (öffentliches Handzeichen) und die nicht genaue Stimmenauszählung, die Komplexität der Themen, die Möglichkeit für „Populisten“ und die mangelnde Sachkenntnis der Bürger (dieselben Einwände werden übrigens häufig gegen das Referendum vorgebracht).

Zudem ist  die elektronische Stimmabgabe oder die Stimmabgabe an der Wahlurne effektiver und zugänglicher, und die repräsentative Demokratie ist eine gute Alternative.

Einige Argumente sind stichhaltig, andere (Populismus, mangelndes Fachwissen) sind es nicht.

Das am häufigsten gehörte Argument für die Landsgemeinde ist die öffentliche Diskussion und Kontrolle der Regierung und die volle (Mit-)Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger über Verfassungsrecht, Haushalt und Politik. Einmal im Jahr werden die Politiker*innen von den Bürger*innen in einer öffentlichen Debatte zur Rechenschaft gezogen.

Die Bürgerinnen und Bürger sind die Gesetzgeber*innen und werden direkt in den politischen Prozess einbezogen. Eine Kaste der Politiker*innen und ihrer Beamt*innen gibt es in dieser politischen Konstellation nicht.

In den Niederlanden zum Beispiel sind nur 1 % der Bürger*innen Mitglied einer politischen Partei, aber sie treffen die Entscheidungen.

Ausserdem können die Bürger*innen nur auf sich selbst verweisen, denn sie treffen die Entscheidungen, sie sind die Politiker*innen. In der Praxis liefern die Bürgerinnen und Bürger sachliche Argumente und unterbreiten begründete Vorschläge.

Die Reden an der Landsgemeinde sind stets fundiert und der gefürchtete Populismus hat keinen Platz. Zudem geht es nicht nur um ein „Ja“ oder „Nein“ zur Landsgemeinde selbst, sondern auch und vor allem um eine direkte Beteiligung an den (vorangehenden) Verfahren. Der Bürger*innen ist nicht so dumm, wie oft behauptet wird, zumindest nicht im Glarnerland (und in der Schweiz).

Schlussfolgerung

Die Landsgemeinde wird in Glarus wegen ihrer Nachteile unter die Lupe genommen. Die Vorteile überwiegen jedoch nach wie vor die Nachteile, und nur wenige denken an ihre Abschaffung.

Natürlich kann nur die Landsgemeinde die Landsgemeinde abschaffen. Ein Bürger hat 2009 einen entsprechenden Antrag gestellt. Niemand hat sich zu Wort gemeldet, nicht einmal der Petent, und der Vorschlag wurde einstimmig abgelehnt.

Die vernünftige Entscheidung während der Reformation 1529, die erste Soziale Gesetzgebung Europas 1848 und 1864, die Gemeindefusionen von 24 auf 3 Gemeinden 2006, das Wahlrecht für 16-Jährige 2007, die direktwahl der Kantonsregierung an der Wahlurne und am 5. September 2021 ein strenges CO2-Gesetz zeigen, dass es sich nicht um ein Relikt aus der Vergangenheit handelt, sondern um einen lebendigen Mechanismus, mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Die Landsgemeinde ist kein folkloristisches l’art pour l’art, sondern eine seriöse, direktdemokratische Institution und ein Konzept, das sich bewährt hat.

Das Wort ist frei und die Debatte ist offen, jeden ersten Sonntag im Mai (5. September 2021).

(Quelle: L. Leuzinger, Ds Wort isch fri, Zürich 2018; www.landsgemeinde.gl.ch; Glarus, Museum zur Landsgemeinde).

Korrektur: Melinda Fechner