Die obere Ranftkapelle, die Zelle und die untere Ranftkapelle. Foto/Photo: TES

Bruder Klaus, die Eidgenossenschaft und ein Vater des Vaterlandes

Die Existenz von Wilhelm Tell kann in Frage gestellt werden, obwohl diese Geschichte in den historischen, politischen und religiösen Kontext des Widerstands gegen einen Herrscher und der Bildung lokaler Bündnisse passt.

Der andere Schweizer Held, Niklaus von Flüe (1417-1487), ist jedoch eine historische Figur, deren Person, Lebensweise und (politische) Taten schon zu Lebzeiten anerkannt und aufgezeichnet wurden.

In seinen jungen Jahren deutete jedoch nichts auf ein Leben als Bruder Klaus hin. Niklaus wurde in Flüe geboren, einem kleinen Dorf bei Sachseln im heutigen Kanton Obwalden, damals zusammen mit Nidwalden auch Unterwalden genannt.

Flüeli-Ranft und die Flüeli-Kapelle (1618), die dem Heiligen Borromäus geweiht ist

Die alte Eidgenossenschaft bestand damals aus acht Ortschaften und Städten (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zürich, Zug, Glarus und Bern). Als (politische) Einheit konnte man diesen Bund  aber noch nicht bezeichnen. Im Gegenteil: Unterschiedliche wirtschaftliche und geografische Interessen führten regelmässig zu Spannungen und Konflikten.

Auf religiöser und internationaler Ebene waren die Diskussionen, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten genauso gross, wie das Konzil von Konstanz (1414-1418) und die religiösen Reformbewegungen zeigen.

Niklaus war ein Kind seiner Zeit und seines Ortes. Er war Bauer und nahm auch an bewaffneten Auseinandersetzungen teil. Im Alter von neunundzwanzig Jahren heiratete er Dorothea Wyss (1430-1495). Bis zu seinem 50. Lebensjahr war er nicht nur Vater und Bauer, sondern auch politisch aktiv.

Wohnhaus von Niklaus und Dorothea (um 1446)

Um das 50. Lebensjahr herum wurde aus dem Bauern Niklaus jedoch Bruder Klaus. Er zog sich aus dem weltlichen Leben zurück und begann ein neues Leben als Einsiedler am Ufer der Melchaa in der Ranftschlucht, nur wenige hundert Meter von seinem Wohnsitz in Flüe entfernt.

Die Hohe Brücke über die Melchaa und die Ranftschlucht. Die Brücke an der Strasse Flüeli-Ranft nach Kerns gilt als höchste gedeckte Holzbrücke Europas. Sie liegt 100 Meter über die Grosse Melchaa.

Er brach den Kontakt zu seiner Familie nicht ab. Dorothea unterstützte ihn und seine neue Lebensweise sogar, und die Bewohner von Flüe schenkten ihm eine hölzerne Zelle und eine Kapelle (die obere Ranftkapelle).

Der Bischof von Konstanz weihte diese Kapelle 1469 ein, ein Zeichen für das grosse Ansehen, das Bruder Klaus schon zu Beginn seines neuen Lebensabschnitts genoss.

Bruder Klaus‘ hölzerne Zelle mit Kapelle (oben links), im Vordergrund ein Informationszentrum

Bruder Klaus war übrigens nicht der einzige Einsiedler zu dieser Zeit. Überall in der (christlichen) Welt widmeten sich Frauen und Männer einem Leben in Abgeschiedenheit, Armut, Kontemplation und Gebet.

Diese Tradition reicht bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums im Nahen Osten zurück. Zu den Vorgängern von Bruder Klaus in der Schweiz gehören St.Gallus in St.Gallen, St. Wiborada in St. Georgen und St.Meinrad in Einsiedeln; zu den Nachfolgern gehört die Einsiedelei von St.Margarethen in Räsch (Kanton Freiburg).

Bruder Klaus zeichnete sich aber auch durch sein politisches Engagement aus. In dieser Hinsicht stand er mit beiden Beinen auf dem Boden der Welt.

Er war über die lokale, eidgenössische und internationale Politik und Diskussion bestens informiert. Wie Bernardo Imperiali, Diplomat im Dienste des Herzogs von Mailand, es ausdrückte, als er dem damals viel besuchten Bruder Klaus begegnete: „Io trovato informato di tutto“ (Ich traf ihn über alles informiert an).

Die untere Ranftkapelle (1501)

Dieser Diplomat eines mächtigen Herzogs hat ihn nicht umsonst konsultiert. Bruder Klaus war seit Jahren ein Begriff in lokalen, regionalen und internationalen Konflikten. Er war das, was wir heute einen „Vermittler“ oder „Arbiter“ nennen.

Arm und Reich, Bauern oder Politiker aus Sachseln, Stans oder Flüe, Vertreter von Orten oder Städten der Eidgenossenschaft, Bischöfe, Herzöge und andere Diplomaten konsultierten ihn.

Bruder Klaus wacht über die Schweiz im Jahr 1940

Seine Vermittlerrolle im Konflikt zwischen den Mitgliedern der Eidgenossenschaft war jedoch sein diplomatischer Höhepunkt. Bruder Klaus war laut einer Chronik von 1507 (der Luzerner Chronik von Diepold Schilling (1460-1515)) einer der Hauptdarsteller des Stanser Verkommnisses vom 22. Dezember 1481.

Die acht Mitglieder der Eidgenossenschaft standen nach den Siegen über den Burgunder Herzog Karl den Kühnen (1433-1477) in den Jahren 1476-1477 am Rande eines Bürgerkriegs.

Bruder Klaus vermittelte, so heisst es, und bei der Tagsatzung von Stans kam das Stanser Verkommnis zustande. Fakt oder Legende, er ist seither so etwas wie ein „Vater des Vaterlandes“.

Obwohl ihm der Friedensnobelpreis nicht verliehen werden konnte, wurde Bruder Klaus 1649 seliggesprochen. Es folgte die Heiligsprechung durch Papst Pius XII. (1876-1958) am 15. Mai 1947.

Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1986

Das Kirchenbuch von Sachseln und viele andere zeitliche Dokumente und schriftliche Quellen sprechen von Mystik, Frömmigkeit, Fasten und seiner Rolle als „Vermittler“ und Friedensstifter. In der Schweiz und auf vier Kontinenten sind Hunderte von Kirchen, Kapellen und Schulen dem Bruder Klaus gewidmet.

Der Schweizer Dichter Heinrich Federer (1866-1928) formulierte es 1921 wie folgt: „Bruder Klaus ist viel zu gross, um nur Schweizer zu sein. Er gehört der ganzen Welt“.

Die sterblichen Überreste von Bruder Klaus sind in der Wallfahrtskirche von Sachseln aus dem Jahr 1684 beigesetzt.

Das Bruder-Klaus-Museum in Sachseln und das Dorf Flüeli-Ranft sind dieser Person, seiner Frau Dorothea und ihrem Empfang gewidmet.

(Quelle und weitere informationen: Bruder Klaus Museum; W. Signer, G. Appius, Niklaus von Flüe , ein politischer Mystiker, Bazel 1989)

Korrektorin: Petra Ehrismann

Hommage an die tapferen Einwohner von Budapest und ihre Rolle im ungarischen Aufstand (1956) in der Ranftschlucht