Die älteste Demokratie Europa’s hat eine neue Regierung

Die Schweiz  hat am 13. Dezember  ihre Regierung  mit sieben Ministern (Bundesräten oder Bundesrätinnen) gewählt bzw. bestätigt.  Das Ernennungsverfahren für diese sieben Minister ist auch aussergewöhnlich.

Die Befugnisse, die Anzahl (sieben) der Minister, die Amtszeit der nationalen Regierung (des Bundesrates) und ihr Verhältnis zum Parlament (Nationalrat und Ständerat) und zu den Kantonen sind in der Verfassung festgelegt.

Ernennung der Regierungsmitglieder

Die beiden Kammern des Parlaments (die Vereinigte Bundesversammlung) wählen oder bestätigen in einer gemeinsamen Sitzung  jeden einzelnen Minister für seine nächste Amtszeit, wobei die absolute Mehrheit erforderlich ist.

Jede(r) Schweizer Bürger(in) kann sich zur Wahl stellen und ist für dieses Amt wählbar. Dies entspricht dem Milizsystem und dem Bürger als Politiker/Souverän, der immer das letzte (obligatorisches und fakultatives Referendum) und manchmal sogar das erste Wort hat (Volksinitiative).

In der Praxis jedoch nominieren die politischen Parteien die Kandidaten für das Ministeramt nach der so genannten Zauberformel. Seit 1959 bilden die vier grössten Parteien die Regierung. Der Verteilschlüsseler gibt sich aus der Anzahl der bei nationalen Wahlen erzielten Stimmen.

Diese Aufteilung gemäss Zauberformel dient dazu, eine möglichst breit abgestützte Regierung zu bilden, da die Schweizer Konkordanzdemokratie Kompromisse und Konsultationen mit allen politischen Parteien und ihren Wählerschaften vorsieht, bevor eine Entscheidung getroffen wird.

Heute haben die Konservativen (SVP) 2, die Liberalen (FDP) 2, die Sozialdemokraten (SP) 2 und die Mitte 1 Sitz.  Dieses Verhältnis spiegelt die Ergebnisse der nationalen Wahlen wider, obwohl der Aufstieg der grünen Parteien zu einer Veränderung führen kann.

Eine Änderung dieser Verhältnisse käme einem  politischen Erdbeben gleich. Neue Parteien oder der Aufstieg bzw. Niedergang bestehender Parteien müssen sich über einen längeren Zeitraum halten, bevor die politische Zusammensetzung der Regierung geändert wird.

Kantone und Gemeinden

Kantonsregierungen und Gemeinderäte (immer  5-7 Personen) werden durch das Volk auf der Grundlage der absoluten Mehrheit pro Kandidat gewählt (Majorzsystem). Die Parlamente in den Kantonen und Gemeinden kommen durch Proporzwahlen zustande (Proporzsystem).

Dies ist auch eine Stärke des Systems: Die Regierungen entstehen auf der Grundlage des absoluten Mehrs pro Kandidat, die Parlamente auf der Grundlage des Proporzwahlrechts. Lediglich der Ständerat wird aufgrund des föderalen Prinzips mit der absoluten Mehrheit pro Kandidat gewählt.

Der erste Bundesrat, gewählt am 16. November 1848. Foto: www.admin.ch Unterschrift

Die sieben Weisen

Im Volksmund wird die Regierung auch als „Les sept sages“ (die sieben Weisen) bezeichnet. Qualität, Integrität und Niveau der Regierung sind im Allgemeinen gewährleistet, auch wenn die Wahl der Minister (politisch) menschliche Arbeit bleibt und nicht jede Wahl eines Ministers ein Erfolg ist.

Vor der Nominierung durch die Parteien gibt es ein umfangreiches und dezentralisiertes Auswahlverfahren, das verschiedene Kriterien berücksichtigt. Letztlich entscheidet die Parteiführung, wer für eine Nominierung in Frage kommt, in der Regel eine bis maximal drei Personen.

Sie streben dann eine absolute Mehrheit im Parlament an. Dieses Verfahren im Parlament ist genau vorgeschrieben und umfasst mehrere Wahlgänge, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit der 246 Stimmen der Vereinigten Bundesversammlung erhält.

Die Abstimmung über eine neue Regierung in der vereinigten Sitzung des Parlaments. Foto: www.admin.ch Unterschrift

Die sieben Mitglieder des Bundesrates werden für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt. Das Parlament kann  einzelnen Mitgliedern  (oder dem Gesamt-Bundesrat) nicht vorzeitig das Vertrauen entziehen; andererseits kann der Bundesrat das Parlament nicht vorzeitig auflösen.

Tritt ein Bundesrat oder eine Bundesrätin freiwillig zurück oder verstirbt er oder sie während der Amtszeit,  ernennt das Parlament nach demselben Verfahren ein neues Mitglied des Bundesrates aus derselben Partei.

Rathaus Basel, am 13. Dezember 2023

13 Dezember 2023

Das am 22. Oktober neugewählte Parlament wählte bzw. bestätigte am 13. Dezember  die Regierung (den Bundesrat)

Aufgrund des Rücktritts eines sozialdemokratischen Ministers wurde ein neuer sozialdemokratischer Minister ernannt. Die Wahl fiel auf den Kandidaten des Kantons Basel-Stadt. Die übrigen sechs Minister wurden für eine vierjährige Amtszeit bestätigt.

Kanton Basel-Stadt (bis 1833 Kanton Basel) war trotz seiner grossen wirtschaftlichen und strategischen Bedeutung seit 1848 nur mit zwei Bundesräten im Bundesrat vertreten.

Die herausragende politische Rolle des Kantons spielte sich 1648 und in der Helvetischen Republik (1798-1803) ab. Johann Wettstein (1594-1666) war Diplomat der Eidgenossenschaft im Westfälischen Frieden von 1648.

Peter Ochs (1752-1821) war Mitglied des nach französischem Vorbild gegründeten Direktoriums zur Zeit der Helvetischen Republik (1798-1803).

Peter Ochs von Basel (1752-1821), 1799. unbekannter Künstler. Mitglied des Direktoriums der Helvetischen Republik (1798-1803), gewissermassen ein Vorläufer der heutigen Regierung. Foto: Wikipedia

Obwohl die Parteien Kandidaten vorschlagen, ist das Parlament frei in der Wahl. Es kommt vor, dass „Aussenseiter“ (die nicht von der Partei vorgeschlagen wurden) die meisten Stimmen erhalten und nicht die „Parteisoldaten“. Am 13. Dezember versuchte  ein Kandidat der Grünen Partei erfolglos, die meisten Stimmen zu erhalten. Die derzeitige Sitzverteilung folgt also noch der Zauberformel.

Die Anzahl der Stimmen, die bei der Wiederwahl erreicht werden, ist allerdings eine Art Zeugnis. Je mehr Stimmen, desto zufriedener ist das Parlament mit der Leistung des Bunderates oder der Bundesrätin.

Nach der Bestätigung des neuen Bundesrates, der also weitgehend der alte Bunderat ist, erfolgt die Zuordnung der Ministerposten zu einem der sieben Departementen. Diese Zuordnung regeln die Mitglieder des Bundesrates intern.

Das Parlament wählte am 13. Dezember auch das jährlich wechselnde Staatsoberhaupt (die Bundespräsidentin in diesem Fall) und einen neuen Bundeskanzler.

Schlussfolgerung

Diese vereinfachte Darstellung der Wahl und Ernennung eines neuen Bundesrates geht nicht auf die „politischen Spiele“ zwischen und innerhalb der politischen Parteien ein, die auch in der Schweiz eine wichtige Rolle spielen.

Die verfassungsrechtlichen Grundlagen (Anzahl von sieben Ministern und Departementen, Kollegialitäts- und Departementalprinzip), das ungeschriebene parlamentarische Recht (Zauberformel und Konkordanzprinzip), die föderale Organisation, die direkte Demokratie und das Milizsystem sind jedoch Garantien für eine adäquate Führung auf nationaler Ebene, obwohl die Polarisierung nicht an der Schweizer Grenze halt macht.

Das andere wichtige Prinzip, die Kollegialität, führ tbei der heterogenen Regierung (u.a. in Bezug auf Sprache, Kanton, Ideologie) dieses heterogenen Landes   manchmal zu Spannungen. Die direkte Demokratie und das Streben nach Kompromissen und Konsultationen sind jedoch ein gutes Ventil, um gesellschaftlichen Diskussionen und politischen Meinungsverschiedenheiten einen Platz zu geben.

Aufgrund des Kollegialitätsprinzips sprechen die Minister nach aussen hin mit einer Stimme. Dies schliesst jedoch Meinungsverschiedenheiten nicht aus. So kommt es regelmässig vor, dass Politiker und Bürger ein Referendum gegen eine Entscheidung oder ein Gesetz ihrer eigenen Minister organisieren. Eine Volksinitiative kann sich auch gegen die Politik der Regierung und des eigenen Ministers richten. Diese haben dann jedoch die Möglichkeit, einen alternativen Vorschlag einzubringen.

Allerdings hat das System auch seine Schwächen. Es dauert lange, bis neue Parteien, wie etwa die Grünen, einen Platz in der Regierung erhalten. Ausserdem orientiert sich die Zahl der sieben Ministerien an der Situation von 1848. Die Reformdiskussionen konzentrieren sich daher auf die Erhöhung der Zahl der Minister und Departemente.

Das Prinzip und die Arbeitsweise des Bundesrates und die Art und Weise der Ernennung von Ministern werden jedoch nicht in Frage gestellt. Die Schöpfer der Verfassung von 1848 sind also die wahren „Weisen“.

Sie stützten sich unter anderem auf die Regierungspraxis in verschiedenen Kantonen vor 1798 und in der Regeneration (1830), das Direktorium (1795-1799) der Französischen Revolution und das Direktorium in der Helvetischen Republik (1798-1803).

Das Direktorium der Helvetischen Republik (1798-1803)  war eine der Inspirationsquellen für den Bundesrat in der Verfassung von 1848. Unterschrift

Dies ist typisch für die Schweiz, ein innovatives und offenes Land, das Altes mit Neuem verbindet, ohne wertvolles Erbe zu vernachlässigen.

Karl Deutsch points to a specific pressure on the competitiveness of key industries. A country that cannot change without losing its essential identity may be in danger of future instability and even lose its existence. The solution to the problem, according to Karl Deutsch, lies in accommodating change while maintaining essential parts of the identity“ Bern 1976).

(Bron: A. Vattel, der Bundesrat, Zürich. 2020; G. Malinverni, M. Hottelier, M. Hertig Randall, A. Flückiger, Droit constitutionnel suisse, Volume I, L’Etat, Bern 2021).

Korrektorin: Eva Maria Fahrni

Eine neue Burg in Neuchâtel

In einer Urkunde von 1011 wird Neuenburg (Neuchâtel, neue Burg, castellum novum) als königliche Residenz beschrieben. Die erste Burg aus dem 11. Jahrhundert stand auf einem leicht zu verteidigenden Felsen.

Als im 12. Jahrhundert immer mehr Häuser um sie herum gebaut wurden, wurde das westliche Tor mit Granit erhöht.

Ein Wall mit zwei Türmen verdoppelte später den (trockenen) Graben. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Burg erweitert. Das Stift wurde um 1190 errichtet.

(Quelle: J. Courvoisier et al, Neuchâtel. Histoire d’un paysage urbain, Neuchâtel, 1999).

Das Stift (la Collégiale) von Neuchâtel

Unruhe und Unrueh in der Schweiz und St. Imier

Die Schweiz ist nicht dafür bekannt, ein Land revolutionärer Veränderungen zu sein. Dennoch steht sie oft an vorderster Front wissenschaftlicher, industrieller, demokratischer oder sozialer Entwicklungen.

 

Hinter der Ordnung, der Ruhe und der Funktionalität sind das Land und seine Bewohner dynamisch und kosmpolitisch geprägt. Dies zeigt sich in einer fast immer respektvollen und gründlichen politischen und medialen Debattenkultur, in der weltweit führenden Position bei Patenten und industriellen Innovationen, in Fragen wie Sterbehilfe oder assistiertem Suizid, in den besten Universitäten Europas, im angemessenen Verhalten im Strassenverkehr, in der Reiselust, in den Bürgern und Kantonen als wichtigsten politischen Kräften und nicht zuletzt in der Kultur des Kompromisses.

 

Einer dieser Aspekte war auch die Gründung eines Bundesstaates im Jahr 1848 – die Schweiz war fortan kein Staatenbund mehr – mit der ersten stabilen Demokratie in Europa, der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts und der Festlegung von drei Landessprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch. 

 

Darüber hinaus war das Land ein Zufluchtsort für Asylsuchende und Flüchtlinge sowie für Anarchisten und Revolutionäre aus den Monarchien Europas.  Französische, italienische, russische, polnische, deutsche und österreichische Exilanten liessen sich in allen Teilen des Landes nieder. 

 

Die Unzufriedenheit der Monarchen war gross. Nach der Französischen Revolution und den darauffolgenden Kriegen wollten sie ab 1815 nicht mehr mit revolutionären oder demokratischen Entwicklungen konfrontiert werden.

 

Die Heilige Allianz, die zu dem Zweck gegründet wurde, war die Garantie dafür. Diese Allianz zwischen dem Russischen Reich, dem Kaiserreich Österreich (Habsburg) und dem Königreich Preussen wurde am 26. September 1815 in Paris geschlossen.

 

Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts führte auch die Schweiz von einer agrarisch und handwerklich geprägten zu einer kommerziellen und industriellen Gesellschaft. Sie schuf neue Beziehungen zwischen Wissenschaft, Industrie, Innovation und Gesellschaft, ermöglichte den Aufstieg der Arbeiterklasse und -bewegung, den Aufstieg der Bourgeoisie und ebnete den Weg für die ersten politischen Parteien und die anarchistischen und revolutionären Bewegungen.

Saint-Imier, Fabrik Longines, 1867. Sammlung: Museum Longines

Plakat Longines 1905. Sammlung: Museum Longines

Saint-Imier,  Longines heute

 Eine der am besten organisierten Arbeiterbewegungen entstand in der Uhrenindustrie des Kantons Neuenburg und des heutigen Kantons Jura, der bis 1979 Teil des Kantons Bern war. La Chaux-de-Fonds und Le Locle gaben im Kanton Neuenburg den Ton an. Im damaligen Kanton Bern wurde Saint-Imier (u.a. Breitling, Longines) zum Zentrum der Uhrenindustrie, was zu einem raschen technologischen und sozialen Wandel führte.

 

Der Film Unrueh des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin (*1984) zeigt ein eindringliches Bild der schnellen Veränderungen in der Organisation von Kapital, Arbeit, Technologie und der anarchistischen Bewegung durch die Augen einer Arbeiterin im letzten Teil des 19. Jahrhunderts. Ihre Aufgabe bestand darin, den zentralen Mechanismus einer Uhr zu regulieren. Dieses Teil, Unrueh genannt, bezeichnet auch die soziale Unruhe. 

 

Anarchisten und Revolutionäre aus ganz Europa versuchten ihr Glück auch in der Schweiz. Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) und der italienische Anarchist Luigi Lucheni (1873-1910) sind die berühmtesten und berüchtigten Beispiele dafür.  

Genf, Boulevard des Genfersees

 In Saint-Imier und in dem Film Unrueh spielt der weniger bekannte russische Geograph, Kartograph und Anarchist Pjotr Kropotkin (1842-1921) die Hauptrolle. Er war einer derjenigen, die die soziale Unruhe – le trouble social – für politische Zwecke nutzten.

Quelle und weitere Informationen: Film Unrueh; Museum Longines, Saint-Imier 

Korrektorin: Petra Ehrismann

Collection: Musée de Longines

Longines

Saint-Imier