Das menschliche Mass in der Confoederatio Helvetica

Die Schweiz begeht ihren Nationalfeiertag am 1. August. Das Land hatte lange mit seiner Nationalhymne, seiner Flagge und seiner Verfassung gerungen. Nach einem Jahrhunderte währenden Einigungsprozess, der im 13. Jahrhundert begann und viele kriegerische Auseindersetzungen nach sich zog, veränderte sich die Zusammenarbeit der Kantone am 12. September 1848 grundlegend. Der Staatenbund wurde zum Bundesstaat, zur Confoederatio Helvetica (CH).

Die Flagge wurde jedoch erst 1889 offiziell als nationales Symbol anerkannt. Die Geschichte der Nationalhymne ist auch kompliziert und noch nicht abgeschlossen. Der 1. August wurde 1891 als Nationalfeiertag anerkannt aus Anlass des 600. Jahrestags des (mythischen und zumindest legendären) Rütlischwurs, dem Schwur der ersten drei Orte Uri, Unterwalden und Schwyz am Ufer des Urnersees (einem Arm des Vierwaldstättersees).

Der Ägerisee

Die Morgartenkapelle

Heutzutage ist das Datum des Nationalfeiertags teilweise umstritten. Tatsache, Legende oder Mythos – Fakt ist, dass diese drei Orte im Jahr 1315 dem Herzog Leopold von Habsburg (1290-1326) beim Ägerisee in der Nähe des Dorfes Morgarten (Kanton Zug) eine ebenso überraschende wie verheerende Niederlage zufügten. Die Bauern aus einer unwirtlichen Bergregion besiegten die Ritter des Landesherren.

Das Dorf Morgarten und seine Umgebung. Es ist nicht genau bekannt, wo die Schlacht stattgefunden hat.

Dieses Szenario wiederholte sich mehrmals in den Jahren 1386 (Sempach), 1388 (Näfels), 1415 (Eroberung des Aargaus) und 1460 (Eroberung des Thurgaus) mit einer immer grösser werdenden Eidgenossenschaft oder Konföderation bis zum Schwabenkrieg 1499 (auch Schweizerkrieg oder Engadinerkrieg, je nach Perspektive). Letzterer wurde im September 1499 beendet mit dem Frieden von Basel und dem „ewigen Frieden“ mit den Habsburgern. Tatsache ist, dass der Vertrag der drei Eidgenossen von 1291 (bestätigt 1315) zu einem Bündnis mit 13 souveränen Kantonen im Jahr 1513 geworden war.

Morgarten Monument

Die alte Konföderation

Die Reformation spaltete die alte Eidgenossenschaft der 13 Kantone nach 1525 in katholische und protestantische Kantone und säte religiöse Zwietracht in Kantonen, Städten und Dörfern. Daraus resultierten einige bewaffnete Konflikte, die Kappelerkriege (1529 und 1531), die Villmergerkriege (1656 und 1712) und schliesslich der Sonderbundskrieg 1847.

Johann Martin Veith (1650-1717),  Allegorie, 1698. Sechs protestantischen Kantone versammelten sich im Jahr 1698 in Schaffhausen  für eine protestantische Tagsatzung. Links die Protestanten, rechts die Katholieken. Sammlung: Landesmuseum Zürich

Auch die Bündner Wirren (1619-1639) im Freistaat der Drei Bünde (dem heutigen Kanton Graubünden) war teilweise ein religiöser (Bürger-)Krieg und ein Machtkampf zwischen den Grossmächten Frankreich, Spanien, Österreich und dem Venedig zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648). Diese militärischen Auseinandersetzungen waren jedoch im Vergleich zu den (Bürger-)Kriegen in anderen Regionen bis 1798 kleine Vorkommnisse.

Kappel (Kanton Solothurn)

Villmergen (kanton Aargau) und das Kriegsmonument

Tatsächlich war die alte Eidgenossenschaft eine friedliche und neutrale Oase mitten in Europa. Religiöse Konflikte wurden meist demokratisch von den Bürgern beigelegt: Kirchen wurden manchmal für die protestantische und die katholische Religion gemeinsam genutzt (Simultaneum) und Kanton Appenzell wurde sogar von den Bürgern in einen katholischen (Appenzell Innerrhoden) und einen protestantischen (Appenzell Aussserrhoden) Kanton aufgeteilt. Es gab zwar religiöse Teilungen, Trennungen und Spannungen, jedoch verhältnismässig wenig gewaltsame Auseinandersetzungen.

Simultaneaum in Sta. Maria (Val Müstair, kanton Graubünden, die Katholieken auf der eine, die Protestanten auf der andere Seite).

Eine Demokratie im heutigen Sinne gab es noch nicht, aber in mehreren Kantonen bestimmten die männlichen Bürger ab 14 oder 16 Jahren in den Landsgemeinden über Politik, Krieg oder Frieden und die Besetzung von Ämtern.

Die städtischen Kantone (Bern, Solothurn, Zürich, Schaffhausen, Basel, Luzern und Freiburg) hatten eine oligarchische oder zünftische Verwaltungsstruktur, aber auch hier gab es keine dominierende Dynastie, Persönlichkeit oder gar einen Monarchen.

In jedem Fall hatten die (wohlhabenden) männlichen Bürger viel mehr Mitspracherecht als im übrigen Europa. Juden, Frauen und Nicht-Bürger waren jedoch auch in der Schweiz ausgeschlossen vom politischen Leben.

So gespalten die Kantone auch waren, die Eidgenossenschaft konnte sich halten durch Kompromisse, durch pragmatisches Streben nach dem Erreichbaren und vor allem durch die Abwesenheit dominanter monarchistischer und dynastischer Strukturen.

Diese Jahrhunderte der Zusammenarbeit, der Erfahrung und der (internationalen) Politik in guten und schlechten Zeiten sowie das Engagement und die Beteiligung der Bürger und heute auch Bürgerinnen an der Gesellschaft prägen die Schweiz noch immer. Das menschliche Mass ist (bisher noch) der Ausgangs- und Bezugspunkt.

Image: l’Office fédéral de la statistique

Die neue Konföderation

Die Helvetische Republik (1798-1803), die von Napoleon nach der Eroberung der alten Eidgenossenschaft geschaffen wurde, beendete die alte Konföderation. Die neue Konföderation (1803-1813), ebenfalls eine Schöpfung Napoleons durch die Meditationsakte, erkannte die neuen französischsprachigen Kantone Waadt (Vaud) und das italienischsprachige Tessin (Ticino) sowie die französische und die italienische Sprache neben dem Deutschen als Amtssprache des Landes an.

Die neue Eidgenossenschaft von 1815 wurde nach der Niederlage Frankreichs um die französischsprachigen Kantone Neuenburg (Neuchâtel) und Genf (Genève) sowie um den deutsch- und französischsprachigen Kanton Wallis (Valais) erweitert. Der französischsprachige Kanton Jura wurde erst 1979 gegründet.

Aufgrund dieser jahrhundertealten Entstehungsgeschichte zwischen verschiedenen Sprachregionen sowie kulturell, religiös, politisch und wirtschaftlich so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und Gebieten (Kantonen) ist die Schweiz eine Art Europäische Union avant la lettre, auch in Bezug auf die manchmal langen und komplizierten Entscheidungsprozeduren. 

Schmelztiegel und Integrationswunder, Schwyzertütsch und Patois

Die Schweiz ist seit Jahrhunderten ein „Schmelztiegel“ . Viele Hunderttausende neuer Eingewanderter sind im Besitz des Schweizer Passes. Zudem ziehen viele Schweizerinnen und Schweizer von einem Kanton in einen andern durch einen Wohnortswechsel.

Das vielleicht grösste Integrationshindernis im Land ist das Schweizerdeutsch mit seinen kantonal verschiedenen lokalen Dialekten. Für französisch- oder italienischsprachige Schweizer, die Hochdeutsch gelernt haben, ist es in der Kommunikation oder in (politischen) Debatten oft ein Hindernis, ja sogar eine Frustration, wenn die deutschsprachigen Gesprächspartner ihren schweizerdeutschen Dialekt sprechen und nicht die Hochsprache.

Vor nicht allzu langer Zeit gab es auch in der Westschweiz noch viele Dialekte, “les patois de la Suisse”. Diese sind erst im 19. Jahrhundert fast ganz verschwunden. (Siehe auch: Andres Kristol, Histoire linguistique de la Suisse romande, Neuchâtel, 2023).

Der Schweizer Pass

Die Tatsache, dass eine grosse Zahl von Einwohnern, rund 25%, keinen Schweizer Pass hat, ist zurückzuführen auf die wichtige politische Rolle der Bürger in den Gemeinden und Kantonen. Der Schweizer Pass und die Staatsbürgerschaft müssen “verdient” werden und sind kein Recht, das nur auf 5 oder 10 Jahren Wohnsitz oder Steuerzahlung beruht. Als Souverän hat ein Bürger beträchliche Einflussmöglichkeiten, Rechte und Pflichten gegenüber der Gesellschaft auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene.

Das Zahlen von Steuern ist ein schwaches Motiv für die Verleihung der Staatsbürgerschaft. Das Land kennt keinen käuflichen „Goldenen Pass“, sondern eine Staatsbürgerschaft, die auf Verdiensten beruht (eine Berufsausbildung oder ein Schulabschluss, zum Beispiel). Dies ergibt sich auch aus der jahrhundertealten Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde, einer Stadt oder einem Kanton.

Schlussfolgerung

Das menschliche Mass ist in der Schweiz (noch) entscheidend. Der föderale, dezentrale Aufbau des Landes und damit die relativ kleinen und überschaubaren Bürokratien auf lokaler Ebene, die direkte Demokratie, das Engagement und der Respekt der (meisten) Bürgerinnen und Bürger für ihre Umgebung sind wichtige Faktoren für ein gut funktionierendes Gemeinwesen. Darüber hinaus spielen auch eine ausgezeichnete Berufsausbildung und gute öffentliche und soziale Dienstleistungen eine Rolle.

Die Schweiz ist kein Paradies, sie ist auch keine Insel und kennt alle Probleme anderer europäischer Länder. Die Schweiz hat auch keine Vorbildfunktion und ihre Entscheidungen sind für das Ausland manchmal schwer nachvollziehbar (z.B. die aktuelle Neutralitätsdebatte). Ihr langfristiger Kurs verdient jedoch ernsthafte Beachtung, Respekt und Anerkennung.

Die Art und Weise wie der 1. August gefeiert wird, ist auch ein Bild für das Mass und den Stil der Schweizer Bevölkerung. Der Nationalfeiertag hat immer auch lokales Kolorit. Schliesslich sind die Kantone und ihre Bürgerinnen und Bürger in den Gemeinden der Souverän. Davon profitieren das Land, die Gesellschaft und die vielen Zuwanderer in diesem wunderschönen Land.

Korrektorin: Eva Maria Fahrni

Basel, die Mittlere Brücke am 1. August

Die Innauen bei Strada und Scuol und die Eintagsfliege des Inns

Die Innauen bei Strada und Scuol sind immer in Bewegung. Einmal gibt es starke Überschwemmungen, ein anderes Mal sind sie grosser Trockenheit ausgesetzt. Der Begriff „Aue“ leitet sich vom althochdeutsch „ouwa“ ab, in der romanische Sprache heisst „aua“ Wasser. Der Inn (En auf Romanisch) ist der Fluss.

In den Innauen (Ischla oder Auenwald) bei Strada und Scuol im Kanton Graubünden wurden seit Jahrzehnten Kieselsteine aus dem Inn gebaggert und Schutt in den Fluss gekippt. Es gab auch Uferverbauungen und viel Wasser wurde für die Energiegewinnung abgezweigt.

Dadurch hat sich der Flusslauf seit 1950 verändert und der Lebensraum für Flora und Fauna verschlechtert. Seit den 1990er Jahren wurden diese industriellen Aktivitäten eingestellt und die Uferverbauungen entfernt. Infolgedessen kehrt der Inn wieder in seinen alten Lauf zurück.

Text und Erklärung zu den vielen Schmetterlingsarten am Inn und deren Fernwanderungen nach Afrika und Schweden!

Durch die stark variierenden Wassermengen entstand wieder eine Landschaft mit Ufern und Sümpfen, ein Paradies für Säugetiere, Insekten, Vögel, Amphibien, Flora und Fauna. Die Natur ist in einigen Fällen sogar vielfältiger, als sie es in diesem Gebiet je gewesen ist.

Die Eintagsfliege

Einer der vielen Bewohner des Inns ist die Eintagsfliege oder besser gesagt ihre Larve. Wie ihr Name schon sagt, ist die Eintagsfliege nicht sehr langlebig. Aber das gilt für die Zeit über dem Wasser, nachdem aus der Larve eine Fliege geworden ist.

Links, die Larve der Eintagsfliege

Die Larve der Eintagsfliege

Zuvor lebt die Eintagsfliege ein bis drei Jahre als Larve unter Wasser, zumindest wenn andere Bewohner wie Fische, Schlangen, Vögel oder andere Tiere sie nicht gefressen haben. Dort ernährt sie sich von Algen und Wasserflöhen und sie fressen totes organisches Material .

Die Bedeutung im Lebenskreislauf der Eintagsfliege spielt sich also hauptsächlich unter Wasser ab. Nachdem sie sich als Fliege entwickelt und das Wasser verlassen hat, besteht ihre einzige Funktion darin, sich fortzupflanzen. Sie kann nicht mehr essen, weil sie keinen Mund hat, und innerhalb von 24 Stunden stirbt sie.

Das Philosophische daran ist jedoch, dass sie keine Sekunde ihres ohnehin kurzen Lebens über Wasser damit verbringt, ihr Schicksal zu betrauern. Sie fliegt munter umher, paart sich oder legt ihre Eier im Wasser ab und erfüllt ihre Aufgabe. Die Eintagsfliege hält auch dem Menschen einen Spiegel vor.

(Quelle und weitere Informationen: www.wwf.ch)

Korrektorin: Giuanna Egger-Maissen

Die romanische Sprache und die Landschaft des Unterengadins

Am 22. Juli (bis zum 26. Juli) startete in Scuol (Kanton Graubünden) wieder der jährliche Romanische Kurs (in Vallader). Die Lia Rumantscha, die Organisatorin des Kurses, zählte dieses Jahr 153 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem In- und Ausland.

Es ist zu erwarten, dass die romanische Sprache in der Schweiz und im Ausland auf zunehmendes Interesse stösst. Die jährlich stattfindende nationale romanische Sprach- und Kulturwoche (Eivna (Emma) rumantscha) ist auch ein Indiz für diese Entwicklung.

Auch in anderen Orten Graubündens werden Kurse in einem der anderen romanischen Idiome (Putèr, Sursilvan, Surmiran oder Sutsilvan) angeboten, nicht nur von der Lia Rumantscha, sondern auch von anderen Organisationen.

Die Sensibilisierung für die Vielfalt, den Respekt vor anderen Sprachen und Kulturen und das Funktionieren einer multikulturellen Gesellschaft ist eine der Grundlagen der mehrsprachigen Schweiz.

Heute singen, spielen, lernen und sprechen die Kinder auf den Strassen, in den Häusern und Schulen der Dörfer wieder Romanisch, und für die älteren Bewohner ist es (wieder) eine Identität, auf die sie stolz sein können.

Scuol

Die Lia Rumantscha unterstützt auch den Aufbau lokaler romanischer Organisationen, vorerst vor allem in der Deutschschweiz, aber demnächst auch in der französisch- und vielleicht italienischsprachigen Schweiz.

Vor dreissig Jahren gab es auf nationaler Ebene wenig Interesse (und damit auch wenig Geld) für die Förderung und Entwicklung der romanischen Sprache und Kultur.

Die romanischsprachigen Einwohnerinnen und Einwohner verloren ihr Engagement auch wegen der neuen Medien, des Tourismus, der fehlenden Arbeits- und Karrieremöglichkeiten im eigenen Land und des Zustroms von Unternehmen und Projekten aus anderen Sprachregionen und Ländern.

Breil/Brigels (Surselvan): Stai si, defenda romontsch, tiu vegl lungatg (Stehe auf, verteidige Romane, deine alte Sprache!, Giacun Hasper Muoth (1844-1906)

Junge Leute verliessen die Region wegen des Studiums oder der Arbeit und kehrten oft nicht mehr zurück. Aber auch in dieser Gruppe gewinnen die romanische Sprache und Kultur rasch an Ansehen und Status.

Vom 7. bis 11. Oktober organisiert die Lia Rumantscha (in Zusammenarbeit mit der Uniun dals Grischs) in  Müstair ihren jährlichen Kurs für Vallader.

Und das aus gutem Grund. Das Romanische ist eine der ältesten lebenden Sprachen Europas und ein direkter Nachfahre des Lateinischen (bzw. Vulgärlateinischen) und seiner rätischen Vorläufer.

Ausserdem ist es eine schöne, wohlklingende Sprache, die gut zu der musikalischen und kulturellen Landschaft und der natürlichen Schönheit der Region passt.

(Quelle und weitere Information: www.liarumantscha.ch)

Korrektorin: Giuanna Egger-Maissen