Die Rheinschlucht oder die Ruinaulta

Die Rheinschlucht oder die Ruinaulta in der romanischen Sprache,ist eine 400 Meter tiefe und 13 Kilometer lange Schlucht. Sie  geht auf den grossen Bergsturz von Flims zurück, der vor etwa 9500 Jahren stattfand. Seit 1977 ist die Rheinschlucht im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) eingetragen.

Der Erdrutsch betraf ein Gebiet zwischen Ilanz und Reichenau. Es entstand ein See, und das Wasser des Vorderrheins bahnte sich allmählich seinen Weg durch die Stein- und Erdmassen.

Zahlreiche kleine Halbinseln, Islas, entstanden. Sie wurden teilweise als Weide- und Ackerflächen genutzt, und im Mittelalter entstanden in der Schlucht Siedlungen. Die Islas haben auch Namen, zum Beispiel Isletta, Disla-Prau Grond, Isla Sura, Isla Sut, Islas da Bargaus, Isla da Corvs, Islas da Zir, Zir Grond, Zir Pign oder Isla Davon.

Ilanz

Die Wege für den Personen- und Güterverkehr verliefen zunächst nicht durch die Schlucht, sondern entlang der Ränder auf dem höher gelegenen Gelände. Sie verbanden Reichenau-Tamins, Trin, Sagogn, Versam, Schluein, Ilanz, Castrisch, Flims und Laax mit Chur. Im Laufe der Zeit wurde die Schlucht jedoch an mehreren Stellen durch Strassen und Brücken zugänglich gemacht.

Der Vorderrhein und der Hinterrhein treffen bei Reichenau-Tamins zusammen.

Mit der Industrialisierung und Modernisierung im 19. Jahrhundert wuchs auch der Bedarf an Bahnverbindungen. Die 1903 eröffnete Bahnlinie Reichenau-Ilanz verband mehrere Dörfer, darunter Versam-Safien, Sagogn, Valendas und Castrisch mit dem weiter entfernten Disentis-Mustér. Im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahn und dem zunehmenden Autoverkehr wurden anschliessend neue Straßen und Brücken gebaut.

Heute ist die Rheinschlucht mit ihrer wunderschönen Landschaft und Flora ein Naturschutzgebiet und ein Tourismusprojekt mit dem Namen „Monumemt Ruinaulta“.

(Quelle und weitere Informationen: M. Bundi, La Ruinaulta. Ein kulturthistorisch Handbuch, Chur 2020)

Korrektorin: Eva Maria Fahrni

Versam

Unruhe und Unrueh in der Schweiz und St. Imier

Die Schweiz ist nicht dafür bekannt, ein Land revolutionärer Veränderungen zu sein. Dennoch steht sie oft an vorderster Front wissenschaftlicher, industrieller, demokratischer oder sozialer Entwicklungen.

 

Hinter der Ordnung, der Ruhe und der Funktionalität sind das Land und seine Bewohner dynamisch und kosmpolitisch geprägt. Dies zeigt sich in einer fast immer respektvollen und gründlichen politischen und medialen Debattenkultur, in der weltweit führenden Position bei Patenten und industriellen Innovationen, in Fragen wie Sterbehilfe oder assistiertem Suizid, in den besten Universitäten Europas, im angemessenen Verhalten im Strassenverkehr, in der Reiselust, in den Bürgern und Kantonen als wichtigsten politischen Kräften und nicht zuletzt in der Kultur des Kompromisses.

 

Einer dieser Aspekte war auch die Gründung eines Bundesstaates im Jahr 1848 – die Schweiz war fortan kein Staatenbund mehr – mit der ersten stabilen Demokratie in Europa, der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts und der Festlegung von drei Landessprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch. 

 

Darüber hinaus war das Land ein Zufluchtsort für Asylsuchende und Flüchtlinge sowie für Anarchisten und Revolutionäre aus den Monarchien Europas.  Französische, italienische, russische, polnische, deutsche und österreichische Exilanten liessen sich in allen Teilen des Landes nieder. 

 

Die Unzufriedenheit der Monarchen war gross. Nach der Französischen Revolution und den darauffolgenden Kriegen wollten sie ab 1815 nicht mehr mit revolutionären oder demokratischen Entwicklungen konfrontiert werden.

 

Die Heilige Allianz, die zu dem Zweck gegründet wurde, war die Garantie dafür. Diese Allianz zwischen dem Russischen Reich, dem Kaiserreich Österreich (Habsburg) und dem Königreich Preussen wurde am 26. September 1815 in Paris geschlossen.

 

Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts führte auch die Schweiz von einer agrarisch und handwerklich geprägten zu einer kommerziellen und industriellen Gesellschaft. Sie schuf neue Beziehungen zwischen Wissenschaft, Industrie, Innovation und Gesellschaft, ermöglichte den Aufstieg der Arbeiterklasse und -bewegung, den Aufstieg der Bourgeoisie und ebnete den Weg für die ersten politischen Parteien und die anarchistischen und revolutionären Bewegungen.

Saint-Imier, Fabrik Longines, 1867. Sammlung: Museum Longines

Plakat Longines 1905. Sammlung: Museum Longines

Saint-Imier,  Longines heute

 Eine der am besten organisierten Arbeiterbewegungen entstand in der Uhrenindustrie des Kantons Neuenburg und des heutigen Kantons Jura, der bis 1979 Teil des Kantons Bern war. La Chaux-de-Fonds und Le Locle gaben im Kanton Neuenburg den Ton an. Im damaligen Kanton Bern wurde Saint-Imier (u.a. Breitling, Longines) zum Zentrum der Uhrenindustrie, was zu einem raschen technologischen und sozialen Wandel führte.

 

Der Film Unrueh des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin (*1984) zeigt ein eindringliches Bild der schnellen Veränderungen in der Organisation von Kapital, Arbeit, Technologie und der anarchistischen Bewegung durch die Augen einer Arbeiterin im letzten Teil des 19. Jahrhunderts. Ihre Aufgabe bestand darin, den zentralen Mechanismus einer Uhr zu regulieren. Dieses Teil, Unrueh genannt, bezeichnet auch die soziale Unruhe. 

 

Anarchisten und Revolutionäre aus ganz Europa versuchten ihr Glück auch in der Schweiz. Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) und der italienische Anarchist Luigi Lucheni (1873-1910) sind die berühmtesten und berüchtigten Beispiele dafür.  

Genf, Boulevard des Genfersees

 In Saint-Imier und in dem Film Unrueh spielt der weniger bekannte russische Geograph, Kartograph und Anarchist Pjotr Kropotkin (1842-1921) die Hauptrolle. Er war einer derjenigen, die die soziale Unruhe – le trouble social – für politische Zwecke nutzten.

Quelle und weitere Informationen: Film Unrueh; Museum Longines, Saint-Imier 

Korrektorin: Petra Ehrismann

Collection: Musée de Longines

Longines

Saint-Imier

Dies academicus: Gründung der Universität Basel bis zur KI-Initiative

Der Dies academicus der Universität Basel fand am 24. November 2023 in der ältesten Pfarrkirche Basels, der  Martinskirche (11. Jahrhundert), statt, ein passender Ort für  den Feiertag der ältesten Universität des Landes.

Die Martinskirche

Der grosse Theologe und Humanist Erasmus von Rotterdam (1469-1536) hat mehrmals in Basel gelebt und gelehrt (1514–1516, 1521–1529, 1535–1536) und ist auch in Basel gestorben.

Er wurde im protestantischen Münster beigesetzt.  Sein Nachlass wurde zum Stftungskapital der im Jahre  1538 gegründeten Erasmus-Stiftung für die Vergabe von Stipendien an (internationale) Studierende. Dies geschah  mehr als vier Jahrhunderte vor dem Erasmus-Programm der Europäischen Union! Schon damals war die Schweiz ein innovatives Land.

Der erste Treuhänder des Fonds war sein Freund Bonifacius Amerbach (1495-1562). Auch die Universität, die Stadt und die Bürger Basels richteten nach 1532 Fonds für die Vergabe von Stipendien ein (siehe unten).

Von den 5 600 Studenten, die sich zwischen 1532 und 1600 immatrikulierten, stammten die meisten aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Deutschland und den österreichischen Territorien, 500 aus Frankreich, 250 aus den Niederlanden, 150 aus dem Königreich Polen und Litauen, 100 aus England, 70 aus Italien und 60 aus Skandinavien.

Rechts das alte  Universitätsgebäude (bis 1939) am Rheinsprung, links der botanische Garten (bis 1692).

1460-1532

Die Universität Basel wurde 1460 auf Initiative des Rates der Stadt gegründet, nachdem Papst Pius II. (1405-1464) in einer Bulle vom 12. November 1459 die schriftliche Genehmigung erteilt hatte.

Am 4. April 1460 wurde die Universität mit einem Gottesdienst und dem “Te Deum laudamus” im Münster mit den vier Fakultäten Theologie, Jura, Medizin und den Artes liberales eröffnet.

Das Konzil von Basel (1431-1438/1449) und die guten Kontakte zu Papst Pius II., der als Sekretär eines Kardinals namens Enea Silvio Piccolomini am Konzil teilgenommen hatte, die Druckereien und Verlage, die zentrale Lage und der humanistische Geist schufen die Voraussetzungen für die Universität in der 10 000 Einwohner zählenden Stadt.

Zentrum Basel rund 1450. Modell: Historisches Museum Basel

Das Konzil hatte seine eigene Universität, die Konzilsuniversität (1432-1440). Dort studierten und lehrten bedeutende Wissenschaftler  der  renommiertesten Universitäten.

Kirche und Wissenschaft, Forschung und Universitäten waren damals noch eng miteinander verbunden. Nach dem Konzil wurde die Konzilsuniversität als Kurienuniversität (1440-1448) weitergeführt. Der Grundstein für eine dauerhafte Universität war damit gelegt.

Ab der Mitte des 15. Jh. wurden im deutschen Sprachraumviele neue Universitäten gegründet, unter anderem in Greifswald (1456), Freiburg (1457), Ingolstadt (1472), Trier (1473), Mainz (1477), Tübingen (1477), Wittenberg (1502) und Frankfurt a/d Oder (1506).

Die Universität Basel stand unter der direkten Aufsicht des Bischofs von Basel, der auch Kanzler der Universität war. Die Universität entwickelte sich mit angesehenen Lehrstühlen und Professoren zu einer prosperierenden Institution . Der Beitritt Basels zur Eidgenossenschaft führte  jedoch zu einem Verlust an Studenten aus den habsburgischen Ländern, die sich danach meist für Freiburg im Breisgau entschieden.

Die zweite Zäsur kam mit der Reformation. Nach turbulenten Jahren und einer Polarisierung von Befürwortern und Gegnern entschieden sich Stadt und Universität 1529 für die Reformation.

Viele Professoren und Studenten sowie das Domkapitel und der Bischof verliessen die Stadt, und die Universität wurde geschlossen. Die meisten Studenten und Professoren gingen ins katholische Freiburg (wie auch Erasmus bis zu seiner Rückkehr nach Basel im Jahr 1535).

Johann Jakob Neustück (1799/1800–1867), 1843, Blick vom Rheinsprung durch die Augustinergasse zum Münsterplatz, rechts das  Augustinerkloster. Foto: Wikipedia

1532-1945

Das Jahr 1532 war für die Universität ein wichtiges Jahr, ein veritabler Neuanfang. Die protestantische Universität wurde 1532 mit neuen Statuten und einer neuen Finanzierung wieder eröffnet.

Eine wichtige Neuerung war die Einführung von Stipendien für Studenten, nachdem die Kirche als Geldgeberin weggefallen war. Die Erasmus-Stiftung, die städtische Unterstützung und Bürgerinitiativen erfüllten diese Funktion.

Auch das „Collegium alumnorum“ unterstützte die Studierenden finanziell. Die beiden Standorte waren das „Obere Kollegium“ im ehemaligen Augustinerkloster (an der Stelle des heutigen Naturkundemuseums) und das „Untere Kollegium“ im alten Universitätsgebäude „Schalerhof“ am Rheinsprung.

Johann Jakob Neustück (1799/1800-1867), 1844, Augustinerklosterhof und das „Oberes Kollegium“. Foto: Wikipedia

Die Trennung von Universität und Kirche brachte der medizinischen Wissenschaft, dem Zivil-, Staats- und Völkerrecht und den Artes liberales viel mehr Aufmerksamkeit. Auch dank der Anwesenheit von Verlegern und Druckern, einem liberalen, humanistischen Umfeld und der zentralen Lage zog die Universität immer mehr ausländische Studenten und Professoren an.

Der Botanische Garten entstand 1588 am Rheinsprung. 1692 zog der Botanische Garten an den Petersgraben in das alte Dominikanerkloster und 1898 an seinen heutigen Standort  zwischen Spalentor und Petersplatz und liegt damit in der Nähe des neuen Universitäts-Hauptgebäudes (Kollegienhaus) von 1939.

 

Das Kollegienhaus, der Petersplatz und der Spalenberg

Museen

Damals wurden die Sammlungen von wohlhabenden Bürgern und Universitätsprofessoren zusammengetragen. Bonifacius und sein Sohn Basilius (1533-1591) Amerbach waren die grössten Sammler antiker Kunst, zeitgenössischer bildender Kunst, von Münzen und Objekten aus anderen Kulturen und der Natur. Die Universität erwarb 1661 diese Sammlung. Sie wurde 1671 im ersten europäischen Museum untergebracht im Haus zur Mücke. Die Universitätsbibliothek war dort bereits.

Haus zur Mücke

Aus dieser Initiative gingen im 19. und 20. Jahrhundert mehrere Museen hervor, darunter das Museum der Kulturen, das Kunstmuseum Basel, das Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, das Historische Museum Basel, das Pharmaziemuseum und das Anatomische Museum.

Die Universität hat mehrere Tiefpunkte erlebt, sei es in Bezug auf die Studierendenzahlen, die politische Situation (1798-1813, die französische Herrschaft) oder die Trennung der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft im Jahr 1833. Heute haben die beiden Kantone einen (finanziellen) Modus vivendi und einen Weg der Zusammenarbeit gefunden. Auch Wirtschaftskrisen und (Welt-)Kriege hatten ihre Auswirkungen.

Nach 1945

Die sieben heutigen Fakultäten für Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Medizin, Jura und Theologie haben heute rund 13 000 Studierende.

Am Dies academicus der ältesten Universität der Schweiz widmete sich der Rektorin unter dem Titel ‚Intelligenzen: Künstliche Intelligenz (KI)‘ der neuesten globalen Herausforderung für die Wissenschaft.

Rektorin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Andrea Schenker-Wicki während der Rede ‚Intelligenzen‘.

Die Universität engagierte sich in einer so genannten KI-Initiative mit dem Ziel, KI auf verantwortungsvolle Weise für die Gesellschaft zu nutzen und weiterzuentwickeln (responsible intelligent society) und alle Bürgerinnen und Bürger in diesen Prozess einzubeziehen (no one left behind).

Erasmus begegnete den Herausforderungen seiner Zeit auf differenzierte, humanistische und tolerante Weise. Er wäre stolz auf das von ihm so geschätzte Basel und auch auf seine Alma mater.

(Quelle: Universität Basel; G. Kreis, 550 Years of the University of Basel, Christoph Merian Verlag, Basel 2010).

Korrektorin: Eva Maria Fahrni

Post scriptum

Die ETH Zürich und die EPFL lancierten am 4. Dezember die «Swiss AI»-​Initiative mit dem Ziel, die Schweiz als weltweit führenden Standort für die Entwicklung und Nutzung einer transparenten und vertrauenswürdigen Künstlichen Intelligenz zu positionieren. Der neue Supercomputer «Alps» am CSCS bietet dazu die Infrastruktur auf Weltklasseniveau.

Impressionen vom Dies academicus der Universität Basel