Das Zürcher Grossmünster. Foto: TES

Die Disputatio von Zürich

Am 29. Januar 1523 fand in Zürich ein damals einzigartiges Ereignis statt. Im Rathaus diskutierten sechshundert Geistliche, Theologen, Ratsherren und andere weltliche Würdenträger über den wahren Glauben. Der Grosse Rat hatte diese Versammlung einberufen.

Religion und Staat, Kirchenordnung und Gesetzgebung waren noch nicht getrennt. Die kirchliche Obrigkeit in Zürich mit dem Bischof von Konstanz (und dem Papst) war die höchste Instanz, auch in weltlichen Angelegenheiten.

Und nur die höchste religiöse Obrigkeit – dazu zählte auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – konnte Versammlungen mit Untertanen veranstalten (z.B. Karl V. (1500-1558)auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521 mit dem einzigen Ziel, Martin Luther (1483-1546) zur Einkehr zu bringen, ein erfolgloser Versuch).

Anton von Werner (1843–1915). Martin Luther und Karl V. in Worms Bild: Wikipedia

Die religiöse Wende begann mit dem Verzehr von Würstchen am 9. März 1522, also während der Fastenzeit. Dies verstiess nicht nur gegen die religiösen Gebote, sondern auch gegen das Gesetz. Zu den Wurstessern gehörte auch Huldrych Zwingli (1484-1531), ein Pfarrer am Zürcher Grossmünster. Nach Studien in Wien und Basel war Zwingli Pfarrer in Glarus und im Kloster Einsiedeln, bevor er 1519 nach Zürich kam.

Die Täuferbibel, exemplar von Heinrich Bullinger

Die erste Rätoromanische Bibel (Scuol, 1679). Die Schriftensammlung im Grossmünster besitzt neben zahlreichen Bibeldrucken auch eine Sammlung von Zürcher Reformationsschriften. Diese Sammlung an Bibeln und Schriften aus der Reformationszeit zeigt die Dauerausstellung „Getruckt zů Zürich“ mit dem Schwerpunkt Disputationen-Reformation im Kreuzfeuer. 

Er war Humanist und wollte die Kirche im Geiste des Erasmus von Rotterdam reformieren. Erasmus hielt sich lange Zeit in Basel auf und Zwingli stand mit ihm und anderen Gelehrten darüber in Kontakt.

Zwingli war ein Gegner des Ablasshandels, der für die Kirche und Rom sehr lukrativ war, ebenso lehnte er das Zölibat ab, die Heiligenverehrung, die Kirchensteuern, die päpstlichen Bullen, die Konzilien und die kirchliche Gesetzgebung sowie den übermässigen Reichtum und andere Missstände in der Kirche.

Grossmünster, Huldrych Zwingli

Zudem wollte er den Handel mit Schweizer Söldnern verbieten. Als Feldprediger erlebte er die Schlacht und die Niederlage der Eidgenossen bei Marignano (1515) und erfuhr das Elend des Krieges aus erster Hand.

Das Wurstessen war eine bewusste Provokation und passte zum Zeitgeist und den Unruhen in anderen Regionen, auch in Deutschland, wo Martin Luther 1517 in Wittenberg seine 95 Thesen verkündet hatte.  Was nicht zum Zeitgeist passte, war die von Bürgern geführte und initiierte Diskussion, die Disputatio.

Der Bischof von Konstanz und der Papst erklärten Zwingli und seine Anhänger zu Ketzern und hatten vor allem die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen im Sinn, wie über hundert Jahre zuvor, 1415, Jan Hus noch erlebt hatte.

Der Grosse Rat von Zürich entschied jedoch anders, zum Teil aus Sympathie für Zwinglis Ideen und wegen der Aussicht, reiche Klöster und andere kirchliche Güter zu bekommen. Was auch immer die Beweggründe waren, am 29. Januar 1523 kamen alle Parteien zu Wort.

Es handelte sich zwar noch nicht um eine Demokratie im heutigen Sinne des Wortes, aber die Versammlung war typisch schweizerisch und einzigartig: An vielen Orten in der Schweiz herrschte die Überzeugung, dass das (männliche) Kollektiv über weltliche Staatsangelegenheiten entscheiden sollte und nicht eine einzelne Person (Papst, Bischof,  Fürst oder andere Adlige).

Zwingli gewann: Er durfte weiterhin seine Reform verkünden. Vom 26. bis 28. Oktober 1523 fand eine zweite Disputatio statt, bei der es um die Abschaffung von Statuen und anderer Heiligenverehrung ging. Auch hier gewann Zwingli. Zürich entschied sich für die Reformation.

Guillaume Farel (1489-1565), der Neuenburger Reformator

Die Disputatio in Zürich fand nachher in diesem Teil Mitteleuropas vielerorts Nachahmung. In den folgenden Jahren wechselten wichtige Schweizer Städte mit den dazugehörigen ländlichen (Untertan-)Gebieten zum anderen Glauben, darunter Bern, Basel, Schaffhausen, Chur, St. Gallen, Genf und Neuenburg.

Die alte Eidgenossenschaft von 13 Kantonen blieb bestehen, aber die Kantone waren untereinander in ein katholisches und ein protestantisches Lager geteilt, und auch innerhalb der Kantone, Städte und Dörfer gab es katholische und protestantische Gemeinden. Dies führte zu relativ kleinen Bürgerkriegen in den Jahren 1529 und 1531 (Kappelerkriege), 1656 und 1712 (Villmergerkriege) und schliesslich 1847 zum Sonderbundskrieg.

Doch trotz dieser Spannungen und (kleineren) Bürgerkriege herrschten Kompromiss und Toleranz. Das protestantische Bern und das katholische Freiburg blieben Verbündete. Das kleine katholische Dorf Arlesheim bei Basel war 1679 Sitz der Domherren des 1529 nach Porrentruy vertriebenen Basler Bischofs. Der (kritische) Katholik Erasmus wurde 1536 im protestantischen Münster begraben, nicht weit von der letzten Ruhestätte des Johannes Oekolampad (1482-1531), des Basler Reformators.

In Glarus und z.B. in Sta. Maria (Kanton Graubünden) teilten sich Protestanten und Katholiken die Kirche, die Appenzeller hatten eine andere Lösung, eine Trennung im Jahr 1597: Appenzell Innerrhoden (katholisch) und Appenzell Ausserrhoden (protestantisch).

Diese relative Toleranz galt nicht für alle: Die Täufer oder Wiedertäufer, eine im Kanton Zürich entstehende Bewegung, wurden rücksichtslos verfolgt. Die Disputatio von Zürich war und ist jedoch einzigartig.

Quelle und weitere Informationen: Historisches Lexicon der Schweiz, Disputationen, I. Backus, 23.01.2006; Grossmünster Zürich;

Korrektorin: Petra Ehrismann

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