Les 26 cantons suisses. Photo/Foto: Les 26 Cantons Suisses (jeretiens.net)

Die Verfassung der Kantone

Die 26 Kantone haben eine (politisch) mächtige und besondere Stellung im Schweizer Staatssystem.

Aus europäischer Sicht sind sie sogar einzigartige jahrhundertealte  Konstruktionen. Dieser Artikel befasst sich mit der Verfassung der Kantone.

Der Politiker und Unternehmer Alfred Escher (1819-1882) formulierte 1848, was noch heute die Grundlage des föderalen und demokratischen Systems ist:

Der schöne Baum unseres neuen Bundes, der seine schützenden Zweige über das ganze Vaterland ausbreitet, hat zu seinen Wurzeln die Kantone. Würden wir diese Wurzeln verkümmern und absterben lassen, so wäre damit auch dem Baum der sichere Untergang bereitet. Die Kantone sind die Säulen, auf denen das ganze Bundesgebäude ruht“ (J. Jung, Alfred Eschers Thronreden, Zürich 2021).

Einführung

Die Kantone und die (stimmberechtigten) Bürger*innen (das Schweizervolk, le peuple suisse) sind die Stifter der Eidgenossenschaft/ la Confédération und der Bundesverfassung (BV). Diese Verfassung gibt dem Bund und den Kantonen (und Gemeinden) ihren eigenen Platz.

Das Verhältnis Bund-Kantone wird in der BV ausführlich besprochen. Der Grundsatz ist in Artikel 3 BV stipuliert: Die Kantone sind souverän, soweit nicht Befugnisse auf den Bund übertragen wurden. Diese Souveränität bezieht sich im nur auf das Verhältnis zum Bund. Es gibt keine Souveränität im Sinne des Völkerrechts.

Das BV hat viele Artikel, die sich mit dem Verhältnis von Bund und Kantonen befassen, u.a. mit dem Vorrang der Bundesgesetze, sowie  der Implementierung durch die Kantone, der Kooperation und der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen, den Kantonen als Organen (z.B. Ständerat) des Bundes, der territorialen Unverletzlichkeit der Kantone und der Rolle des Volkes und anderen Themen.

Art. 51 BV verlangt, dass jeder Kanton eine demokratische Verfassung hat, die dem BV (und den internationaler Verträgen) entspricht.

Die kantonale Verfassung

Alle Kantone haben eine Verfassung. Jede Änderung bedarf der Zustimmung des Bundesparlaments und der Bürger*innen der betroffenen Kantone (obligatorisches Referendum).

Darüber hinaus kann das Bundesgericht in bestimmten Fällen über die kantonale Verfassung entscheiden (z.B. über die kantonale Wahlsystemen für das Parlament und das Majorzsystem).

Im Übrigen sind die Kantone frei in der Fassung (Verfassungsautonomie) und in der Organisation der Regierung, der richterlichen, gesetzgebenden und exekutiven Gewalt, des Staatsbürgerrechts und des Stimmrechts sowie in der Schaffung und Organisation von Gemeinden, Bezirken und anderen öffentlich-rechtlichen Organisationen. Dies ist ein zentrales Element des Schweizer Föderalismus.

Darüber hinaus sind die Kantone souverän in der Festlegung und Finanzierung ihrer Haushalte (Finanzautonomie).

Die Kantone erheben zur Finanzierung ihrer Aufgaben und Befugnisse direkte und indirekte Steuern (soweit sie nicht auf die Bundesebene übertragen werden). Auch dies ist ein wichtiger Aspekt des Föderalismus.

Diese Souveränität hindert den Bund nicht daran, die Kantone finanziell zu unterstützen. Es gibt Kantone, die Nettozahler und Kantone die Nettoempfänger sind.

Republik, Staat, Kanton

Der besondere verfassungsrechtliche und politische Charakter der Kantone zeigt sich auch in den ersten Artikeln ihrer Verfassungen. Die meisten Kantone fixieren die Doppelfunktion von (souveränem) Staat und Mitglied, souveräner Republik und Kanton der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Der Wortlaut variiert. Die groben Umrisse lauten jedoch: „ein freiheitlicher, demokratischer und sozialer Rechtsstaat“, „ein Stand der Schweizerischen Eidgenossenschaft“, „Une République et l’un des Etats de la Confédération suisse“, „ein souveräner Stand“, „ein souveränes Bundesmitglied“, „eine demokratische Republik“ oder zum Beispiel „un canton souverain de la Confédération suisse“.

Die Texte betonen die vielfältigen Funktionen der Kantone: Als autonome oder selbständige Mitglieder der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in vielen Bereichen kooperierend oder in anderen Bereichen ein Organ (z.B. der Ständerat) des Bundes.

Die Bürger*innen

Die (stimmberechtigten) Bürger*innen, (das Volk), sind das wichtigste Organ jeder Verfassung. Durch die direkte Demokratie haben die Bürger*innen immer das letzte Wort im obligatorischen  Referendum oder auf eigene Initiative (verschiedene Arten des fakultativen Referendums).

Ausserdem kann die Verfassung auch auf kantonaler Ebene durch eine Volksinitiative geändert werden. Die Kantone regeln das Stimm- und Bürgerrecht in Übereinstimmung mit dem Bundesrecht.

Die Gewaltenteilung

Die Organe des Kantons müssen die Trias Politica oder Gewaltenteilung einhalten. Dies ist in den meisten Verfassungen explizit und in anderen implizit stipuliert. Auch die BV stellt diese Anforderung (implizit).

Das Parlament

Die Legislative, das Parlament, wird direkt von den Bürger*innen gewählt. Die Kantone sind in der Regel in Wahlkreise eingeteilt.

Es gibt zwei Wahlsysteme: das Proporzsystem, mit der Anzahl von  Sitzen aufgrund der für eine Partei abgegebenen Stimmen, und das Majorzsystem, mit der absoluten Mehrheit pro Kandidat.

Die Wahlsysteme und die Rolle des Bundesgerichts werden im nächsten Artikel behandelt.

Das Milizsystem

Offiziell hat das Parlament nur (unbezahlte) Teilzeitpolitiker*innen (Milizsystem). Seit 1990  gibt es jedoch mehr und mehr Berufspolitiker. Die Anzahl der Sitze ist je nach Kanton unterschiedlich. Die Funktionsweise und die Befugnisse sind in der Verfassung geregelt.

Die Regierung

Die Exekutive, die Regierung, wird ebenfalls direkt von den Bürger*innen gewählt. Dies ist einzigartig in Europa. Der Kanton ist ein Wahlkreis. Dort wird mit absoluter Mehrheit pro Kandidat gewählt. Nur das Tessin hat ein Proporzsystem.

Die Regierung pro Kanton besteht aus 5 bis 7 Mitgliedern. Die Kantonsregierung basiert wie die Bundesregierung auf dem Kollegialprinzip.

Die Mitglieder sprechen nach aussen hin mit einer Stimme. Im Allgemeinen spiegelt die Regierung in der Praxis die Verteilung der Sitze im Parlament wider.

Das System der absoluten Mehrheit pro Kandidat*in schafft eine direkte Verbindung zwischen Wähler*innen  und Regierung. Individuen und nicht (ihre) Parteien haben die wichtigste Rolle.

Diese Dichotomie von Proporzsystem im Parlament und Majorzsystem in der Regierung wird manchmal nicht ganz zu Unrecht als „Schweizer Wunderwaffe“ bezeichnet.

Die Judikative

Die Verfassung regelt auch die Judikative, die aufgrund der Bundesverfassung unabhängig sein muss.

Die Kantone organisieren ihre Straf-, Zivil- und Verwaltungsgerichte in zwei Instanzen (erste Instanz und Berufung). Die Gemeinden haben keine Gerichte. Die BV regelt jedoch die Verfahren und Bedingungen ganz detailliert.

Die Richter*innen werden vom Volk und in einigen Fällen vom Parlament und den Berufungsgerichts für eine feste Amtszeit (4, 6 oder 10 Jahre) gewählt. Sie sind Mitglied einer politischen Partei.

Das Bundesgericht mit Sitz in Lausanne, Bellinzona und St. Gallen, ist manchmal der höchste Richter für die kantonalen Gerichte. In einigen Fällen prüft das Bundesgericht auch die kantonale Verfassung gegen die Bundesverfassung.

Doppeltes Ja

Die Vertretung der Kantone im Ständerat ist übrigens ein Organ des Bundes (siehe oben) und nicht des Kantons. Die Bürger*innen eines Kantons wählen ihre Delegation in diesem Mitgesetzgeber. Dies ist ein weiterer grundlegender Aspekt des Föderalismus.

Bei einem obligatorischen Referendum oder einer Volksinitiative auf nationaler Ebene ist für ein positives Ergebnis ein „doppeltes Ja“ erforderlich. Es muss eine absolute Mehrheit auf nationaler Ebene und eine Mehrheit der Kantone im Referendum vorhanden sein auf der Grundlage des Abstimmungsergebnisses pro Kanton.

Die historische Entwicklung und Schlussfolgerung

Die wichtige Rolle der Kantonsverfassung zeigt sich auch in ihrer historischen Entwicklung, insbesondere nach 1815, und ihrem Einfluss auf die Bundesverfassung von 1848, 1874 und 1891 und die Einführung der direkten Demokratie.

Diese Periode umfasst die Restauration (1815-1830), eine Rückkehr zu den alten Verfassungen und Kantonen von vor 1798, die Periode der Regeneration (1830-1845) und die demokratische Bewegung in den Kantonen für die direkte Demokratie nach 1848.

Die Kantone nahmen verschiedene Anwendungen der direkten Demokratie in ihre Verfassungen auf, 1874 und 1891 folgte die BV. Lediglich das obligatorische Referendum zur Änderung der BV war bereits 1848 auf nationaler Ebene eingeführt worden.

Die Kantonsverfassung verlor vor allem nach 1945 an Bedeutung, weil immer mehr Kompetenzen an den Bund übertragen wurden.

Das Haus der Kantone in Bern, die interkantonale Zusammenarbeit, die interkantonalen Verträge und das interkantonale Recht und sogar internationale Verträge der Kantone zeigen jedoch, dass die Kantone noch sehr lebendig sind.

So wurden in jüngster Zeit Volksentscheide auf nationaler Ebene zwar von einer Mehrheit der Stimmberechtigten angenommen, aber aufgrund fehlender kantonaler Mehrheiten dennoch abgelehnt (Doppeltes Ja).

(Source: A. Auer, Staatsrecht der Schweizerischen Kantone, Bern, 2016).

Korrektur: Melinda Fechner

Foto: Les 26 Cantons Suisses (jeretiens.net)