Das Kloster Notkersegg und die Klausur Mauer aus dem Jahr 1757. Foto/Photo: TES

Industrialisierung, Katholiken, Protestanten und Klöster in St. Gallen

Die Stadt, der Kanton und die Abtei St. Gallen sind seit Jahrhunderten, vor der Reformation im Jahr 1526, aber auch danach, ein Symbol der Spaltung der Eidgenossenschaft. Ähnlich verhält es sich mit dem Verhältnis zwischen den Regierungen der Städte Chur, Konstanz, Basel und Genf und ihren Bischöfen.

Bis zur Reformation hatten diese Trennungen nichts mit Religion zu tun, sondern mit wirtschaftlichen, dynastischen und politischen Interessen.

Diese Spaltung ist an sich nichts Besonderes, das Besondere ist, dass die Eidgenossenschaft und die Kantone sie überlebt haben, mit 1848 als Grundlage der heutigen Confoederatio Helvetica der souveränen Republiken (sofern die Verfassung nichts anderes vorsieht).

Die Abtei St. Gallen

Kanton, Stadt und Abtei St. Gallen

Erst nach der Reformation bekamen diese Spaltungen eine religiöse Dimension. Wirtschaftliche und politische Motive spielten aber auch eine (grosse) Rolle bei der Wahl für den anderen Glauben.

Der Zugriff auf reiche Abteien, Klöster und bischöflichen Besitz war attraktiv und die politische Rolle des Bischofs in der Stadt war ausgespielt (Basel, Konstanz und Genf) oder weniger wichtig (Chur). Sitten (Sion) war ebenfalls eine Bischofsstadt mit einem angespannten Verhältnis zwischen dem Bischof und den sieben Oberwalliser Senden, aber es gab keine Reformation.

Die Beziehungen zwischen Wirtschaft, Politik und Religion spielten daher in Stadt und Kanton St. Gallen über Jahrhunderte eine wichtige Rolle. Kanton und Stadt St. Gallen sind vor allem für ihre Textilien, die berühmte Abtei und ihre Bibliothek bekannt.

Weit weniger bekannt sind die Industriegeschichte u.a. der Schokolade und das lange Schisma zwischen der katholischen und der protestantischen Gemeinde in der Stadt St. Gallen und im Kanton.

Die Stadt St. Gallen

Industrialisierung und religiöse Spaltung sind in St. Gallen eng miteinander verbunden. Die Stadt St. Gallen trat 1526 zum neuen (protestantischen) Glauben über. Die Abtei und die Stadt lebten danach jahrhundertelang buchstäblich getrennt voneinander.

Eine Mauer trennte die Abtei von der Stadt, und die Mönche und der Abt durften diese Mauer nur unter strengen Auflagen überschreiten, eine Berliner Mauer avant la lettre.

Dennoch war die Abtei bis 1798 (französischer Einmarsch und Gründung der Helvetischen Republik (1798-1803) die wichtigste Grundbesitzerin in der Region. Viele Dörfer und Städte, wenn auch nicht alle, blieben daher katholisch.

St. Georgen

St. Georgen

Dies änderte sich erst mit der Enteignung des Klosters im Jahr 1805 und der beginnenden Industrialisierung ausserhalb der Stadt. Ein gutes Beispiel dafür ist der heutige Stadtteil St. Georgen, Teil der ehemaligen Gemeinde Tablat.

Dieser Ort liegt in der Mülenenschlucht, wenige Kilometer vom Zentrum und der Abtei St. Gallen entfernt. Das Dorf St. Georgen entwickelte sich, wie so oft im Mittelalter, um die Kirche St. Georgen (gegründet im 9. Jahrhundert) und das Kloster St. Wiborada (1834 aufgelöst).

Die ehemalige Klosterkirche

Bis 1798 war Tablat (und St. Georgen) ein Untertanengebiet der Fürstabtei St. Gallen und damit katholisch. Viele Mühlen sorgten schon im Mittelalter für den mechanischen Antrieb und die Wasserversorgung von Schmieden, Bäckern und anderen kleinen Handwerkern.

Die Weier um 1900

Die Textilindustrie entwickelte sich im Dorf erst nach 1800. Die Müleggweier, das Moor auf Dreilinden, die Steinach und kleine Quellen sorgten für eine ständige Wasserversorgung, auch in trockenen Zeiten.

1885 eröffnete der Schokoladenfabrikant Maestrani auch in St. Georgen eine Fabrik, nachdem er bereits 1849 in der Stadt St. Gallen mit der Herstellung von Schokolade angefangen hatte. Maestrani blieb bis 2003 in St. Georgen, erst dann zog die Fabrik nach Flawil (Kanton St. Gallen) um.

Bis zur Industrialisierung um 1820 war die Bevölkerung von St. Georgen überwiegend katholisch. Durch die Einwanderung protestantischer Arbeiter stieg die Bevölkerung von etwa 4 400 im Jahr 1850 auf über 12 000 im Jahr 1900.

Dies führte zum Bau getrennter katholischer und evangelischer Schulen und zur Ansiedlung von katholischen und evangelischen Bäckern, Metzgern, Lebensmittelhändlern, Ärzten und anderen Dienstleistern.

St. Georgen wurde auch zum Zentrum des religiösen Kulturkampfes in der Schweiz. Mehrere Gebäude (auch Schulgebäude) in St. Georgen erinnern noch heute an diese Zeit des starken industriellen Wachstums und der religiösen Spaltung.

Evangelisches Schulhaus Bach um 1900

Obwohl die religiöse Spaltung in der Schweiz nicht zu den Gewaltexzessen anderer europäischer Länder führte (mit Ausnahme einiger Konflikte in den Jahren 1529, 1531, 1656, 1712 und 1847), war sie bis 1848 eine politische und bis in die 1960er Jahre auch eine gesellschaftliche Realität.

Kloster Notkersegg

Das nahe gelegene Frauenkloster Notkersegg, das 1381 gegründet wurde, blieb von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt. Zunächst war es formal kein Kloster, sondern eine Wohnanlage für Beginen.

Bis 1602 war die Zahl der Beginen so gross, dass die Beginen dem Kapuzinerorden (einer Abspaltung des Franziskanerordens) formell beitraten als Kapuzinerinnen. Der Komplex bestand damals aus mehreren Gebäuden und der Kirche von 1453. Die mächtige Benediktinerabtei St. Gallen war jedoch nie weit entfernt und übernahm 1610 sogar die Obhut.

1727 und 1757 waren wichtige Jahre für das Kloster. Aufgrund des vatikanischen Dogmas der Klausur für Nonnen baute das Kloster eine Mauer, um die Nonnen von der (bösen) Aussenwelt abzuschotten.

Die Mauer steht noch heute. 1757 erhielt das Kloster ein Geschenk aus Italien: eine Statue der „Madonna di buon consiglio“. Seitdem trägt das Kloster den Namen „Maria vom guten Rat“.

Das Kloster existiert und funktioniert noch immer, trotz der schwierigen Jahre nach der Auflösung der Abtei im Jahr 1805, des Kulturkampfs und der heutigen geringen Begeisterung für den Beitritt. Das Kloster hat noch sechs Nonnen und lebt unter anderem von der Landwirtschaft.

(Quelle und weitere Informationen: St. Georgen; klooster Notkersegg)

Korrektorin: Giuanna Egger-Maissen