Lionza, Palazzo Tondü. Foto/Photo: TES

Schloss Tondü und die Tessiner Kaminfeger

Die Geschichte der Zuckerbäcker aus Graubünden und  ihr weltweiter Ruf  ist bekannt.  Die meisten dieser Auswanderer fristeten jedoch ein ärmliches Dasein.

Nur eine kleine Minderheit kam durch Hotels, Restaurants, Cafés, Konditoreien oder z.B. Brauereien in (Haupt-)Städten Europas, Nord- und Südamerikas zu Wohlstand. Einige wenige kehrten in ihr Heimatdorf in Graubünden zurück und bauten Stadtpaläste.

Gleiches gilt für die Schweizer Söldner. Vor allem die Organisatoren, welche die Söldner anwarben und zum Teil aus prominenten Familien stammten, gelangten zu grossem Reichtum, Ruhm und (militärischem) Prestige und manchmal sogar zu militärischen Rängen bis in die höchsten päpstlichen, kaiserlichen, königlichen, fürstlichen und kolonialen Kreise Europas. Dieses Gewerbe war straff organisiert. Die Organisatoren schlossen Verträge mit Herrschern in anderen europäischen Ländern. Die Söldner, meist Bauernsöhne, waren die “Ware”.

Die meisten Söldner sahen ihre Heimat niemals wieder oder kehrten arm zurück. Tatsächlich geht das Wort Heimweh auf dieses Söldnerheer zurück, das von 1500 bis zu seinem gesetzlichen Verbot 1848 etwa anderthalb Millionen Mann umfasste.

Kaminfeger

Die Geschichte der Zuckerbäcker oder Söldner ist ein bekannter Teil der Schweizer Geschichte. Anders verhält es sich mit der Geschichte der Spazzacamini (Kaminfeger) aus dem Tessin.

Dass Kaminfeger aus der Lombardei und dem Piemont (Italien) auswanderten, ist bekannt. Dass aber viele italienischsprachige Kaminfeger aus dem Tessin stammten, wurde bisher kaum beachtet.

Auch in der Schweiz war diese Tatsache lange Zeit wenig bekannt. Nach 1945 war es mit diesem Gewerbe vorbei, aber die (Gross-)Eltern und ihre Nachkommen schämten sich, ihre (jungen) Söhne „verkauft zu haben“, und das Thema war deshalb lange Zeit tabu.

Einigen Schweizer Museen (darunter das Museo di Val Verzasca in Sonogno und das Museo Regionale Centovalli-Pedemonte in Intragna) ist es zu verdanken, dass diese Geschichte ab dem Jahr 2000 dokumentiert wurde.

Lisa Tetzner (1894-1963) publizierte 1940 den Roman ‘Die schwarzen Brüder. Abenteuer eines Tessiner Bergbauernjungen (Aarau, 1940) und Elisabeth Wenger (*1946) veröffentlichte im Jahr 2010  ‘Als Lebender Besen im Kamin. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur’ (Books on Demand, BoD 2010).

Die grossen Familien mit manchmal 10 bis 20 Kindern konnten sich nicht selbst ernähren. Auch die Väter arbeiteten oft im Winter als Kaminfeger und in den Sommermonaten als Land- oder Fabrikarbeiter, um ihre Familien durchzubringen.

Kleine Jungen im Alter von sechs bis acht Jahren  konnten leicht in enge Kamine  hinabsteigen, um sie zu reinigen und vom Russ zu befreien. Den Eltern blieb oft nichts anderes übrig, als ihre (sehr) jungen Söhne für die Padroni arbeiten zu lassen.

Sie schickten ihre Kinder in die Lombardei, ins Piemont, in die Niederlande, nach Österreich, Frankreich, Deutschland, England oder sogar nach Amerika und Russland, wo sie unter Aufsicht der Padroni Kamine fegten. Die Anfänge dieses Gewerbes gehen wahrscheinlich auf das 15. Jahrhundert zurück. Die ersten Dokumente stammen jedenfalls aus dem sechzehnten Jahrhundert.

Kaminfeger mit seinem Padrone, um 1870. Foto: Museum Museo di Val Verzasca in Sonogno  

Die meisten Kaminfeger kamen aus den Tälern Centovalli, Verzasca, Vigezzo und Maggia bei Locarno. Der bekannte Glarner Chronist Aegidius Tschudi spricht 1538 vom Tal Vigezzo (teils Tessin, teils Lombardei): „im Tal Vejetz sind alle Kaminfeger, die nach Neapel, Sizilien, Frankreich und Tütschland reisen“ (Aegidius Tschudi, Die uralt wahrhaftig Rhetia, Basel 1538).

Ein anderer Chronist berichtete: „…das Kaemifaegertal, das man Vallis Vegetia nennet. Daraus kommend gemeinlich alle Kaeminfaeger, die durchziehend aller lender des gantzen Europae…“ (Johannes Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgenossenschaft Stetten, Landen und Völckeren Chronik wirdiger thaaten beschreibung (Zürich 1548).

Johannes Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgenossenschaft Stetten, Landen und Völckeren Chronik wirdiger thaaten beschreibung (Zürich 1548). Sammlung: Zentralbibliothek Zürich

Auf einer Karte aus der Mitte des 16. Jahrhunderts wird das Centovalli sogar als “Käminfegertal” bezeichnet (Giulio Rossi-Eligio Pometta, Storia del Cantone Ticino (Locarno 1980). Das Tessin war von 1512 bis 1798 ein Untertanengebiet der Eidgenossenschaft und wurde von Landvögten verschiedener Kantone regiert.

Die Padroni waren die Organisatoren dieses Gewerbes, sprich Arbeitsvermittler für Kaminfeger. Das Gewerbe war, wie das Söldnergewerbe, im Besitz einiger weniger Familien. Die Eltern schlossen für ihre Söhne Saisonverträge für die Zeit von November bis April in der Lombardei oder im Piemont ab. Für weit entfernte Länder waren es Fünfjahresverträge. In den Sommermonaten arbeiteten die Kinder auf Bauernhöfen, in (Textil-)Fabriken, in Haushalten oder an anderen Orten.

Die Eltern erhielten dafür Geld (die Hälfte wurde im Voraus bezahlt, die andere Hälfte am Ende der vertraglich vereinbarten Zeit). Ausserdem gab es zu Hause weniger Kinder zu ernähren.

Die Armut war so gross, dass ein Schriftsteller über seine Kindheit sagte: „Wir assen morgens Kastanien, nachmittags Kastanien und abends Kastanien“. Diese Kinderarbeit und Sklaverei mit Sieben-Tage-Wochen war sehr ungesund und gefährlich, die Padroni und Auftraggeber waren oft rücksichtslos . Viele der oft sehr jungen Kinder überlebten die Strapazen nicht, nur wenige konnten ihren Lebensstandard verbessern und noch weniger brachten es zu Wohlstand.

Lionza

Palazzo Tondü in Lionza

Doch es gibt auch Geschichten von schnellem sozialem Aufstieg und Reichtum. Der Palast der Familie Tondutti in Lionza im Centovalli ist ein Beispiel dafür. Vater Giuseppe Tondutti und seine beiden Söhne Andrea (13 Jahre) und Antonio (7 Jahre) reisten im Oktober 1630 nach Parma, um Kamine zu fegen. Das Schicksal führte sie in die Villa des wohlhabenden Bankiers Marini. Giuseppe starb bei der Arbeit, weil ein Diener den Küchenofen angezündet hatte, ohne zu wissen, dass er am Kaminfegen war.

Das kinderlose Ehepaar Marini beschloss, Andrea und Antonio zu adoptieren. Es war der Beginn einer rasanten Karriere bis in die höchsten Adelskreise. Bereits 1650 bauten die Brüder ihren Palast in Lionza, in dem sie allerdings nicht dauerhaft lebten. 1784 schenkte Ritter Ferdinando Tondü den Palast der Gemeinde Lionza. Im Jahr 1984 wurde die Stiftung (Fondazione) Casa Tondü gegründet, um den Komplex zu renovieren.

Die Tondutti waren nicht die einzigen wirtschaftlich erfolgreichen Kaminfeger und Palazzo-Erbauer. Auch andernorts wurden Stadtpaläste von ehemaligen Kaminfegern gebaut, so auch im Vigezzotal.

Die Herkunft dieser Spazzacamini lässt sich an den vielen Kaminen auf den  Gebäuden erkennen. In der Regel hatten die Bauherren als Kaminfeger begonnen und sie selbst oder ihre Nachkommen  wurden danach auch Padroni. Dieser Hintergrund war jedoch weniger prestigeträchtig als der Erfolg als Zuckerbäcker oder Söldner im fremden Militärdienst.

Korrektorin: Eva Maria Fahrni

Quelle: Elisabeth Wenger,  Als Lebender Besen im Kamin. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur, Books on Demand, BoD 2010; Guido Fiscalini, I Tondù di Lionza (Museo Regionale Centrovalli-Pedemonte in Intragna, 1998).

Lionza, die Kapelle der Familie Tondü

Die Kirche St. Antonio da Padova, 17. Jahrhundert

Basel, Unterer Heuberg, der Kaminfeger