St. Imier. Foto: TES

Unruhe und Unrueh in der Schweiz und St. Imier

Die Schweiz ist nicht dafür bekannt, ein Land revolutionärer Veränderungen zu sein. Dennoch steht sie oft an vorderster Front wissenschaftlicher, industrieller, demokratischer oder sozialer Entwicklungen.

 

Hinter der Ordnung, der Ruhe und der Funktionalität sind das Land und seine Bewohner dynamisch und kosmpolitisch geprägt. Dies zeigt sich in einer fast immer respektvollen und gründlichen politischen und medialen Debattenkultur, in der weltweit führenden Position bei Patenten und industriellen Innovationen, in Fragen wie Sterbehilfe oder assistiertem Suizid, in den besten Universitäten Europas, im angemessenen Verhalten im Strassenverkehr, in der Reiselust, in den Bürgern und Kantonen als wichtigsten politischen Kräften und nicht zuletzt in der Kultur des Kompromisses.

 

Einer dieser Aspekte war auch die Gründung eines Bundesstaates im Jahr 1848 – die Schweiz war fortan kein Staatenbund mehr – mit der ersten stabilen Demokratie in Europa, der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts und der Festlegung von drei Landessprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch. 

 

Darüber hinaus war das Land ein Zufluchtsort für Asylsuchende und Flüchtlinge sowie für Anarchisten und Revolutionäre aus den Monarchien Europas.  Französische, italienische, russische, polnische, deutsche und österreichische Exilanten liessen sich in allen Teilen des Landes nieder. 

 

Die Unzufriedenheit der Monarchen war gross. Nach der Französischen Revolution und den darauffolgenden Kriegen wollten sie ab 1815 nicht mehr mit revolutionären oder demokratischen Entwicklungen konfrontiert werden.

 

Die Heilige Allianz, die zu dem Zweck gegründet wurde, war die Garantie dafür. Diese Allianz zwischen dem Russischen Reich, dem Kaiserreich Österreich (Habsburg) und dem Königreich Preussen wurde am 26. September 1815 in Paris geschlossen.

 

Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts führte auch die Schweiz von einer agrarisch und handwerklich geprägten zu einer kommerziellen und industriellen Gesellschaft. Sie schuf neue Beziehungen zwischen Wissenschaft, Industrie, Innovation und Gesellschaft, ermöglichte den Aufstieg der Arbeiterklasse und -bewegung, den Aufstieg der Bourgeoisie und ebnete den Weg für die ersten politischen Parteien und die anarchistischen und revolutionären Bewegungen.

Saint-Imier, Fabrik Longines, 1867. Sammlung: Museum Longines

Plakat Longines 1905. Sammlung: Museum Longines

Saint-Imier,  Longines heute

 Eine der am besten organisierten Arbeiterbewegungen entstand in der Uhrenindustrie des Kantons Neuenburg und des heutigen Kantons Jura, der bis 1979 Teil des Kantons Bern war. La Chaux-de-Fonds und Le Locle gaben im Kanton Neuenburg den Ton an. Im damaligen Kanton Bern wurde Saint-Imier (u.a. Breitling, Longines) zum Zentrum der Uhrenindustrie, was zu einem raschen technologischen und sozialen Wandel führte.

 

Der Film Unrueh des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin (*1984) zeigt ein eindringliches Bild der schnellen Veränderungen in der Organisation von Kapital, Arbeit, Technologie und der anarchistischen Bewegung durch die Augen einer Arbeiterin im letzten Teil des 19. Jahrhunderts. Ihre Aufgabe bestand darin, den zentralen Mechanismus einer Uhr zu regulieren. Dieses Teil, Unrueh genannt, bezeichnet auch die soziale Unruhe. 

 

Anarchisten und Revolutionäre aus ganz Europa versuchten ihr Glück auch in der Schweiz. Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924) und der italienische Anarchist Luigi Lucheni (1873-1910) sind die berühmtesten und berüchtigten Beispiele dafür.  

Genf, Boulevard des Genfersees

 In Saint-Imier und in dem Film Unrueh spielt der weniger bekannte russische Geograph, Kartograph und Anarchist Pjotr Kropotkin (1842-1921) die Hauptrolle. Er war einer derjenigen, die die soziale Unruhe – le trouble social – für politische Zwecke nutzten.

Quelle und weitere Informationen: Film Unrueh; Museum Longines, Saint-Imier 

Korrektorin: Petra Ehrismann

Collection: Musée de Longines

Longines

Saint-Imier