Das Bundeshaus, Bern. Foto: TES.

Warum die Schweiz

Warum die Schweiz?

So lautet der Titel des Buches von Jonathan Steinberg (Cambridge, dritte Auflage, 2015). Das Buch ist eine detaillierte Studie über sieben Jahrhunderte Geschichte, Politik, Religion, Kultur, Wirtschaft und Werte. Sie haben das Land und seine Kantone geprägt und zu dem gemacht, was sie sind – keine Insel, sondern eine Oase mitten in Europa, wie Steinberg sagt:

„Why Switzerland? consists of two parts: why is there Switzerland? And why anybody else should care? The answer to the first is clear and has been the main effort in this book: a detailed study of creating a unique and successful small state over seven centuries and how and why it has worked. The answer to the second is the other face of the answer to the first. This small country represents the most intensive and continuous experiment in the strengths and limits of democracy. Switzerland matters to everybody who prefers democracy“.

Vevey, 29. Juli 2019. Foto: TES

Stereotype

Es gibt viele Klischees und Tatsachen über die Schweiz (und ihre Bürger*innen). Wenn das Land überhaupt in der ausländischen Presse auftaucht, geht es oft um (nicht nur jüdisches) Vermögen aus dem Zweiten Weltkrieg, das Bankgeheimnis, Schwarzgeld oder kriminelles Geld, die späte Einführung des Frauenwahlrechts (1971 auf Bundesebene), das Minarettverbot (2009) oder die Einführung von Quoten für Einwandererinnen und Einwanderer (2014). In jüngster Zeit kann die Anwendung der Neutralität bei (indirekten) Waffenlieferungen an die Ukraine hinzugefügt werden.

Dieser Artikel befasst sich nicht mit diesen Tatsachen, sondern stellt sie in die Perspektive der jahrhundertealten historischen, sozialen und politischen Entwicklungen, der direkten Demokratie, der fast sprichwörtlichen Höflichkeit im Alltag und der Achtung vor der Privatsphäre.

Ort der Zuflucht

Die Schweiz war für Schweizer*innen bis 1848 ein Auswanderungsland. Gleichzeitig war sie immer auch ein Zufluchtsort für Verfolgte: vom 16. bis zum 18. Jahrhundert für Hugenoten, Humanisten und Intellektuelle, Revolutionäre und Anarchisten, Frauen und Männer, auf der einen, im 19. Jahrhundert für Monarchen und Aristokraten auf der anderen Seite, ab 1914 für Pazifisten und Pazifistinnen, Kriegsgegner*innen (zum Beispiel die Künstlerbewegung DADA in Zürich) und Flüchtlinge.

Der österreichische Kanzler Klemens von Metternich (1773–1859) nannte das Land im 19. Jahrhundert einen Zufluchtsort für Republikaner und Anarchisten: Die Schweiz war das schwarze Schaf für die umliegenden europäischen Monarchien. Es war sogar von einer Invasion die Rede, um dieser liberalen Politik ein Ende zu setzen. Dazu ist es nie gekommen, weil das Land und seine Kantone (die letztlich über das Aufenthaltsrecht entschieden) manchmal strategisch nachgaben, um weitere Provokationen zu vermeiden.

Frauenwahlrecht

Auch die späte Einführung des Frauenwahlrechts ist komplizierter, als es das Jahr 1971 vermuten lässt. Bereits 1867 konnten Frauen an Schweizer Universitäten studieren. Sie (und einige Männer) beanspruchten um diese Zeit schon das Wahlrecht. Marie Vögtlin (1845–1916) war 1869 die erste Frau in Europa, die Medizin studierte. Emilie Kempin-Spyri (1853–1901) promovierte 1887 und war damit die erste Frau Doktor mit eigener Dissertation in Europa.

Marie Vögtlin (1845–1916). Foto: Wikipedia

Ihre Tante war übrigens die Schriftstellerin Johanna Spyri (1827–1901), die Autorin von Heidi (1881). Frauen waren auch in allen Arten von Organisationen tätig. Bis 1918 unterschieden sich ihr Wahlrecht und ihre Rechtsstellung nicht von denen in anderen europäischen Ländern von einigen nordeuropäischen Ländern abgesehen (Finnland, 1906, Dänemark, 1915, Norwegen, 1913)

Dann kam der Erste Weltkrieg: Die wehrfähigen Männer der europäischen Nationen zogen als Soldaten an die Front, während die Frauen deren Platz in der Arbeitswelt einnahmen. Bei Kriegsende im Jahr 1918 konnte diese Situation nicht mehr rückgängig gemacht werden, und die Regierungen führten das Wahlrecht ein, allerdings ohne Volksabstimmung.

Die Schweiz war während des Ersten Weltkriegs neutral geblieben. Hier hatten die Frauen die Männer nicht in diesem Masse ersetzt. Nach dem Krieg wurden vergeblich Initiative auf nationaler Ebene und kantonalen Referenden über das Wahlrecht für Frauen ergriffen.

Zudem lehnte die Mehrheit der Kantone dieses Recht auf nationaler Ebene bis 1971 und in einigen Fällen sogar noch länger ab – Appenzell-Innerhoden wurde durch ein Bundesgerichtsurteil im Jahr 1991 als letzter Kanton gezwungen, seinen Bürgerinnen das Wahlrecht zu geben.

Nach der Einführung des neuen Rechts haben die Schweizer Frauen jedoch schnell ihre Positionen eingenommen. Die erste Präsidentin oder Prima inter Pares in der nationalen Regierung gab es bereits 1999. Auch die Zahl und Qualität der Politikerinnen ist hoch.

Eine hypothetische Frage: Wie wäre eigentlich das Ergebnis in anderen Ländern (z. B. in den Niederlanden) ausgefallen, wenn dort über das Frauenstimmrecht abgestimmt worden wäre? Immerhin unterschied sich bis in die 1950er- und 1960er-Jahre die Rechtsstellung der (verheirateten) Schweizer Frauen nicht wesentlich von derjenigen in anderen europäischen Ländern.

Jean-Baptiste Isabey (1767-1855), Kongress von Wien (1814-1815). Foto: Wikipedia

Neutralität

Die Schweiz war bei der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge vor und nach 1940 zu restriktiv, bwohl es auch «ungehorsame» Beamte, Bürgerinnen und Retter in der Not gab und die öffentliche Meinung diese Politik missbilligte.

Der «Judenstempel», ein grosses rotes «J» im Pass jüdischer Menschen, die vor dem nationalsozialistischen Regime in die Schweiz flohen, wurde 1938 durch den damaligen Bundesrat gebilligt. Der Buchstabe diente dazu, rassistisch Verfolgte an der Grenze rascher zu identifizieren. Diese Praxis war und ist jedoch moralisch verwerflich und ein (freiwilliges) Zeichen von Feigheit, um dem Nachbarland zu gefallen.

Das Land und seine Fabriken lieferten (indirekt) Waffen an Deutschland, und Deutschland legte sein (geplündertes und gestohlenes) Gold und Geld auf Schweizer Bankkonten an. Aber hätte es eine Alternative gegeben? Das Land war von aggressiven Diktaturen umzingelt, die jederzeit einmarschieren konnten. Dafür gab konkrete Pläne (z. B. Operation Tannenbaum).

Obwohl das Land schwer bewaffnet war und sich in seiner Alpenfestung (Reduit) wahrscheinlich heftig gewehrt hätte, wäre es unmöglich gewesen, lange standzuhalten.

Überleben durch Kompromisse und Gefallen lautet also die Devise. In dieser Hinsicht unterschied sich die Schweiz nicht von anderen neutralen Ländern (z. B. Schweden) oder den Industrien und Bürokratien der besetzten Länder.

Die Neutralität wird im Zusammenhang mit der russischen Invasion in der Ukraine heute heftig diskutiert. Die öffentliche und parlamentarische Debatte ist in vollem Gange. Neutralität ist kein Ziel an sich. Neue Umstände erfordern unterschiedliche Anwendungen.

Die Neutralität von 1815 war und ist nicht die Neutralität von 1914 bis 1918, 1939 bis 1945, 1948 bis 1989 und 2022. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik im Jahr 2022 nicht denselben «J»-Fehler in Bezug auf (indirekte) Waffenlieferungen begeht, in der vergeblichen Hoffnung, einem anderen Diktator zu gefallen.

Einsiedeln, Kanton Schwyz. Die Toblerones. Foto: TES.

Bankgeheimnis

Der Umgang mit dem (nicht eingeforderten) jüdischen Vermögen nach 1945 hängt mit dem (jahrhundertealten) Bankgeheimnis zusammen. Viele Kontoinhaber bzw. -inhaberinnen und ihre Familien hatten den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Verwandte waren oft nicht informiert, und das Bankgeheimnis, die Bürokratie und rechtliche Fragen verhinderten den Zugang zu den Konten.

Hätte es auch anders laufen können? Ja, aber das Bankgeheimnis war sakrosankt und nicht für diese Situation bestimmt und gemacht. Dies gilt auch für das heutige Schwarzgeld oder Vermögen von Diktatoren und (anderen) Kriminellen.

Pecunia non olet … Das gilt auch für die Schweiz. Viele Anpassungen und Reformen sind bereits realisiert worden. Kann es schneller gehen? Ohne Zweifel, aber auch hier ist die Schweiz keine Ausnahme.

Referendum und Volksinitiative

Dies gilt auch für die Ergebnisse bestimmter Volksabstimmungen oder Volksinitiativen. Die Bürgerinnen und Bürger sind über gesellschaftliche Entwicklungen besorgt.

In der Schweiz haben sie die Möglichkeit, ihre Bedenken direkt zu äussern. Liegen sie dabei immer richtig? Nein, aber das sind Entscheidungen von Berufspolitikern und -politikerinnen oft auch nicht. Auch sie ignorieren Probleme oder vermeiden die öffentliche und politische Debatte, die wichtigste Funktion der direkten Demokratie.

Die politische Organisation

Die direkte Demokratie, das föderale Modell, die dezentrale Organisation des Landes, die einzigartige Verfassung von 1848, die obligatorischen sieben Minister und Ministerinnen, das Konkordanzsystem (le système de concordance) , die sogenannte Zauberformel (la formule magique) bei der Regierungsbildung, die besondere Beziehung zwischen Parlament und Regierung, die Gleichstellung der ersten (Nationalrat) und der zweiten Kammer (Ständerat), die Kombination aus dem Majorzsystem bei den Wahlen zur zweiten Kammer, den Exekutivorganen der Kantone und Gemeinden sowie aus dem Proporzsystem bei den Wahlen zu den Gemeinde-, Kantons- und Nationalparlamenten (erste Kammer), die jährlich wechselnde Präsidentschaft des Landes, vertreten durch den Primus oder die Prima inter Pares des Bundesrates, bilden die Grundlage der politischen und gesellschaftlichen Stabilität.

Die Bürger und Bürgerinnen: der Schweizer Souverän

Das wichtigste Erbgut des Schweizer Modells sind jedoch die Bürger und die Bürgerinnen. Sie sind der absolute Souverän und zusammen mit den Kantonen die Gründer der Föderation. Sie hüten die Verfassung und sind die oberste gesetzgebende Gewalt.

Allein das Notrecht kann die Gewalt des Souveräns beschränken. Ferner können die Bürger, die Bürgerinnen und die Kantone dem Bund Kompetenzen übertragen. In diesem Fall besteht immer die Möglichkeit eines verbindlichen Referendums.

Die politische Rolle der Bürgerschaft spiegelt sich in einem hohen Mass im sozialen Engagement wider. Ohne die Bürgerinnen und Bürger könnten die nationalen, kantonalen und kommunalen politischen und demokratischen Institutionen wie auch das Milizsystem nicht funktionieren.

Gehandelt wird im Respekt vor der Natur, den Bauern, den Handwerker*innen und den (Verkehrs-)Regeln. Dies zeigt sich an der Höflichkeit im Alltag und der erstaunlichen und beeindruckenden wissenschaftlichen, industriellen und intellektuellen Kreativität und Innovation in allen Teilen des Landes.

Schlussfolgerung

Steinberg schreibt:

„Why Switzerland? consists of two parts: why is there Switzerland? And why anybody else should care? The answer to the first is clear and has been the main effort in this book: a detailed study of creating a unique and successful small state over seven centuries and how and why it has worked. The answer to the second is the other face of the answer to the first. This small country represents the most intensive and continuous experiment in the strengths and limits of democracy. Switzerland matters to everybody who prefers democracy“.

Das ist die Antwort auf «Warum die Schweiz?»: die wahre demokratische Europäische Union der sechsundzwanzig (jahrhundertealten) souveränen Republiken.