Verrières, Benjamin Locatelli, 2014. Photo/Foto. TES.

Was weiss das Ausland über die Schweiz?

In der letzten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag des Jahres 2023 fragt der Korrespondent der Financial Times: „Ist die Schweiz sympathisch?“.

Er zählt dann mehrere Beispiele für das Image der Schweiz im Ausland auf: Wohlstand durch jüdische Vermögenswerte und Raubgut, Neutralität und Profitieren vom Zweiten Weltkrieg (1939-1945), das Bankgeheimnis und schmutziges und kriminelles Geld, eine „amerikanische Verfassung“, isolationistisch und sich nicht um die Aussenwelt kümmernd, kurzum, die üblichen klischeehaften Stereotypen, die offenbar eine emotionale Reaktion hervorrufen sollen.

Basel, Fasnacht 2024

Wie gut kennen Ausländer die Schweiz?

Der Titel seines Artikels muss korrigiert werden. Er sollte lauten: „Wie gut kennen die Ausländer (und dieser Korrespondent) die Schweiz?“ Das Wissen dieses Korrespondenten ist so oberflächlich, falsch und tendenziös wie das Urteil von Urlaubern auf dem Weg zu ihrem Schweizer Reiseziel: „Basel ist eine hässliche Stadt“.

Sie stützen ihr Urteil auf Tunnels und Industriegebiete, die sie von der Autobahn aus sehen, ohne die Stadt zu besuchen. Dasselbe gilt für den selbsternannten „Schweiz-Experten“ der Europäischen Union, Andreas Schwab. Er erklärte kürzlich, ‘die Schweiz schottet sich ab’, weil eine (grosse) Mehrheit der Bürger nicht Mitglied der EU sein wolle.

Basel

Neutralität

Das Land hat sich in den Jahren 1939-1945 stets gegen das Deutsche Reich und Italien verteidigt. Die Schweiz war das einzige europäische Land, das bei der Parade am 20. April 1939 (dem 50. Geburtstag Hitlers) nicht offiziell vertreten war, weil Deutschland im März 1939 in die Tschechoslowakei einmarschiert war.

Die deutsch- und italienischsprachige Bevölkerung der Schweiz lehnte mit überwältigender Mehrheit einen Anschluss oder Irredentismus ab. Stattdessen stimmten sie mit überwältigender Mehrheit für die Mehrsprachigkeit, die Demokratie und ihre multikulturelle Gesellschaft, wie die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache im Jahr 1938 beweist.

Einsiedeln, Kanton Schwyz, ‚Toblerones‘

Braune oder schwarze Parteien spielten nie eine nennenswerte Rolle, anders als in den Niederlanden, Frankreich oder Rumänien, ganz zu schweigen von Deutschland, Österreich, Ungarn oder Italien.

Trotz der schnellen Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 und umgeben von rücksichtslosen Diktaturen verteidigte sich die Schweiz und schoss regelmässig deutsche Flugzeuge ab. Der Wille und die Fähigkeit, sich durch die Réduit-Strategie und die Unterstützung der Bevölkerung zu verteidigen, waren den Diktatoren klar. Der Preis einer Invasion wog schwerer als die Vorteile einer Durchfahrt durch ein neutrales Land. Die Gefahr einer Invasion blieb jedoch allgegenwärtig (Operation Tannenbaum), wie auch der deutsche Einmarsch in Ungarn im März 1944 zeigte.

Gland, La Villa rose. Foto: Wikipedia

Wie alle (neutralen und besetzten) Länder musste die Schweiz Kompromisse eingehen und auch mit dem Feind Handel treiben: Frankreich (Vichy), Russland (bis zum 22. Juni 1941 ein enger Verbündeter Deutschlands), Schweden und Finnland (bis 1944 ein Verbündeter Deutschlands).

Der beschränkte Zugang für (jüdische) Flüchtlinge vor und während des Krieges ist eine schwarze Seite, aber auch hier war die Schweiz nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Amerika, die Niederlande, Kanada und das Vereinigte Königreich verfolgten bis 1940 dieselbe Politik. Ausserdem nahm die Schweiz relativ viel jüdische und politische Flüchtlinge auf.

Die Neutralität wurde bereits 1648 akzeptiert (Westfälischer Friede). Am Wiener Kongress (1815) wurde die neue Eidgenossenschaft für ihren Widerstand gegen den französischen Diktator belohnt, ihr (militärischer) Wert wurde als neutrales Land anerkannt.

Foto:Franzoseneinfall in Nidwalden, www.franzoseneinfall.ch

Napoleon musste seine Ambitionen auf einen Einheitsstaat (Helvetische Republik 1798-1803) nach französischem Vorbild aufgrund des Widerstands der Kantone nur in diesem einzigen von ihm besetzten Gebiet aufgeben! Die Konföderation der souveränen Kantone wurde wieder eingeführt und bildete 1815 die Grundlage für die neue Konföderation.

Die Ukraine, der Skandal und die (neue) europäische Schande

Diese Neutralität ist nicht in Stein gemeisselt und wurde den neuen Gegebenheiten (UN-Mitgliedschaft und der Zusammenarbeit mit der NATO) angepasst. Daher ist es nicht „skandalös“ (dieser Korrespondent), dass das Land keine Panzer in die Ukraine exportiert. Er ignoriert auch die aktuellen politischen und öffentlichen Diskussionen und Veränderungen in dieser Frage.

Wenn das Land nie etwas versprochen hat, kann es nicht enttäuschend oder skandalös sein. Im Gegensatz dazu verhalten sich die Europäische Union, Deutschland, Frankreich und die Niederlande beschämend und halten Versprechen und Vereinbarungen (auch der NATO) nicht ein.

Bankgeheimnis

Das Schweizer Bankgeheimnis wurde nicht für schmutziges oder kriminelles Geld von Ausländern geschaffen, sondern als Ausdruck der Privatsphäre der sehr diskreten Schweizer. Dieses System wurde vor allem nach 1945 von Ausländern, deren Steuermoral wesentlich schlechter ist, massiv missbraucht. Schweizer Banker sind nicht besser oder schlechter als Banker in anderen Ländern und nutzten die Möglichkeiten.

Jüdische Überlebende konnten ihr Geld oder ihre Vermögenswerte nach dem Krieg ohne Probleme abheben und zurückholen. Die Familie von Anne Frank ist nur ein Beispiel dafür. Sie lebte in der Schweiz (ein Teil der Familie seit 1929), und Otto Frank, Annes Vater, gründete 1945 den Anne Frank Fonds und initiierte die Veröffentlichung ihres Tagebuchs in Basel.

Das Problem war die geringe Zahl der jüdischen Überlebenden und damit derjenigen, die Zugang zu den Bankkonten hatten. Oft gab es keine direkten Erben, und niemand wusste etwas über Bankkonten oder Kunstwerke der Verstorbenen.

Opekta und der Merwedeplein in Amsterdam, wo die Familie Frank von 1933 bis zum 6. Juli 1942 wohnte. Foto: TES. Ausstelling  ‚Anne Frank und die Schweiz‘. Nationalmuseum Zürich

Dies wurde erst mit der Suche durch oft sehr weit entfernte Erben und meist provisionsgetriebene Anwälte aktuell. Diese Erben wussten häufig nichts von diesen Verwandten und das Gleiche gilt für die gestohlenen oder geraubten Vermögenswerte. Dass Familienmitglieder Anspruch auf diese Werte haben, liegt auf der Hand, aber es muss einen gewissen rechtlichen Nachweis geben. Das kann in einem hierarchischen, starren, bürokratischen Bankensystem ein Problem sein.

Natürlich gibt es Themen wie Raubgold aus anderen Ländern, andere Raubkunst oder z.B. das „J“ in Pässen nach 1938. Das hätte anders sein sollen und müssen. Aber es ist einfach und anachronistisch, im Nachhinein Kritik zu üben, ohne den Kontext einer Zeit, in der niemand wusste, wie der Krieg enden würde, und der ständigen Bedrohung durch  Diktaturen.

Der englische Korrespondent betont jedoch diese Stereotypen und moralischen Vorurteile ohne historischen, rechtlichen und sozialen Kontext.

Schweizer Kreise

Auch in akademischen und (selbsternannten) intellektuellen Kreisen wird die Schweiz oft als mittelalterlich, isolationistisch und egoistisch dargestellt. Sie haben schon viele Bücher und Artikel über die „rückständige“ Wilhelm-Tell-Geschichte, die Entstehung der Schweiz dank europäischer Grossmächte oder die „schändliche“ Ablehnung des EU-Beitritts geschrieben.

Es ist so, als ob Akademiker in anderen Ländern die Existenz von Romulus und Remus, des Kreuzes von Konstantin, der Göttin Athene oder der revolutionären Marianne in Frage stellen. Es ist gar nicht wichtig, ob Wilhelm Tell existiert hat oder nicht. Die schöne (mythische) Geschichte symbolisiert den Zeitgeist um 1300 in der Innerschweiz.

Freiburg, Rathaus und der Ewige Friede von 1516

Die geschichtliche Entwicklung der Eidgenossenschaft der Orte (ab dem 16. Jahrhundert, auch Kantone genannt) ab dem 14. Jahrhundert und ihr militärisches und politisches Prestige war nach ihren zahlreichen Siegen über die mächtigen Habsburger (1315-1499), die Burgunder (1476-1477) und die Herzöge von Savoyen (1536) gross.

Ohne die Eidgenossenschaft hätte es im Jahr 1500 wahrscheinlich ein Königreich Burgund statt eines französischen Königreichs gegeben. Frankreich brauchte die Eidgenossenschaft nach 1516 wegen der Qualität seiner Soldaten, Verkehrswege, Industrie (u.a. der Textilindustrie) und Händler.

George Kuhnt, Konditorei Barth & Cloetta, Breslau, um 1854. Ausstellung ‚Die Bünder Auswanderungsgeschichte von Zuckerbäckern‘.

Kosmopolitisch

Zudem hat sich die Schweiz nach 1848 durch Innovation, Bildung, Industrie, Handel, Offenheit, Unternehmertum und der Bildung eines föderalen, dezentralisierten und multikulturellen Staates zu einer einzigartigen direkten „Miliz“-Demokratie entwickelt.

Das hat nichts mit einer Verfassung nach amerikanischem Vorbild zu tun, wie dieser Korrespondent fälschlicherweise behauptet. Er stützt sich allein auf den Ständerat, der zwar dem amerikanischen Modell nachempfunden ist, aber was soll’s! Sie zeigt vor allem den kosmopolitischen und offenen Charakter des Landes.

Ausserdem liegt das Land seit der keltischen und römischen Zeit im Zentrum Europas. Es war schon immer international ausgerichtet und zeigte immer ein grosses Interesse an anderen Kulturen, am Handel, an Kunst und Wissenschaft.

Der Korrespondent hätte Publikationen (auch in englischer Sprache) über die jahrhundertelange Weltbürgerschaft von Händlern und Unternehmern in den Bereichen Textilien, Uhren, Rohstoffe, Lebensmittel, Zuckerbäcker, Keramik, Finanzen, Maschinenbau, Schifffahrt, Schuhe, Haarkämme oder Schokolade lesen können, um nur einige Beispiele zu nennen, ganz abgesehen von den unzähligen Soldaten, Studenten, Politikberatern, Wissenschaftlern, Künstlern, Architekten und anderen Berufen im Ausland. Folglich verfügt dieses innovative Land heute über eine sehr hohe Zahl von Patenten.

Basel, Haus zur Mücke, das erste Museum in Europa

Flüchtlinge und Multikulturalität

Dass Schweizer im „Exil im eigenen Land“ leben (Die Schweizer leben, ohne es zu bemerken, in einer Art Exil. Sie sind betäubt, unempfindlich gegenüber den Mächtigen der Welt. Die Psychologie des Exils) und kümmern sich nicht um das (Elend in) anderen Ländern) ist auch ein (schlechter) Witz.

Das Rote Kreuz, die erste internationale Schiedsgerichtsbarkeit in Genf 1869, Bourbaki oder Strassburg 1871, die Basler Mission, französische Soldaten 1914-1918, Hugenotten und andere religiös Verfolgte im 16. und 17. Jahrhundert, Erasmus, Edward Gibbon, Lord Byron, Josephine de Beauharnais, Rousseau, Calvin, Madame de Staël, Chaplin, Rilke, Kirchner, französische, italienische, deutsche und russische politische Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, Dada oder beispielsweise die ersten (ethnografischen) Museen der Welt erzählen eine andere Geschichte. Die Schweiz nimmt immer noch viele Flüchtlinge in einem relativ guten Integrationssystem auf.

Jeden Tag kommen fast 400.000 Franzosen, Italiener und Deutsche aus der (verarmten) Europäischen Union in dieses kleine Land, um gut bezahlte Arbeitsplätze zu finden; Hunderttausende leben und arbeiten dauerhaft in der Schweiz.

Viele Einwohner haben einen ausländischen Hintergrund und integrieren sich in der Regel gut. Die Staatsbürgerschaft sollte jedoch verdient sein und ist kein Recht an sich, denn die Bürger sind die eigentlichen Politiker mit Rechten und Pflichten.

Die jahrhundertelange Zusammenarbeit mit und zwischen verschiedenen Regionen, Kantonen, Sprachen und Kontakten mit dem Ausland trägt ebenfalls zu dieser Mentalität bei. Die Vielfalt der jahrhundertealten Bistümer ist ein Zeichen für den multikulturellen und kosmopolitischen Charakter des Landes.

Das  Felslabor Mont Terri 

Schlussfolgerung

Der Korrespondent, Sam Jones, ist keine Karikatur eines Korrespondenten oder Journalisten. Er ist ein Symbol für das oft geringe Bildungsniveau und Engagement und Aktivismus der heutigen Journalistengeneration.

Er befindet sich in guter Gesellschaft von z.B. Johannes Ritter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder einem Reporter des Guardian, der „Schweizer Rassismus“ schrie, als der farbige CEO der Credit Suisse wegen seines (finanziellen und vielleicht kriminellen) Missmanagements und Fehlverhaltens (zu spät) gefeuert wurde. Die Financial Times hat ihm trotzdem eine Hagiographie gewidmet.

Basel, Fasnacht 2024

Das Ausland hat oft nur diese Quellen zur Verfügung und Expats sind oft uninteressiert. Dieser Korrespondent bestätigt den Niedergang der Glaubwürdigkeit des Mainstream-Journalismus und vieler Zeitungen.

Die Schweiz ist, leider, kein Paradies und auch keine Insel, und ihre Bürger sind weder besser noch schlechter als anderswo. Dennoch ist die Schweiz eine Oase der direkten Demokratie, der Zivilgesellschaft, der besten Zeitung und des gesunden Menschenverstandes inmitten einer oft ungemütlichen Europäischen Union.

Oder, mit den Worten des Schriftstellers Sándor Márai (1900-1989):

Die wunderbare Schweiz war sich selbst geblieben. Und sich selbst bleiben, ist schliesslich genau so heldenhaft wie die panische Suche nach der Wahrheit. Es gibt Fälle, die man nur in höherer Instanz gewinnen kann, und diese kleine Insel in Europa hat im letzten Jahrhundert hartnäckig und konsequent danach gestrebt, in höherer Instanz zu gewinnen. Die Schweiz braucht sich nicht zu schämen, dass sie nicht teilgenommen hat (am Zweiten Weltkrieg). Es reicht, dass ich mich schäme, dass ich dabei war und nichts tun konnte. Die Schweiz muss sich nicht schämen, dass sie die felsigen Grenzen ihres kleinen Landes bewacht, wo sich ein Volk getraut hat, mit allen Konsequenzen „Nein“ zu sagen“.

Man muss sich auch nicht dafür schämen, im Kapitalismus zu leben, denn zurzeit funktioniert dieses System offensichtlich zufriedenstellend: Wohin man auch schaut, arbeiten gut bezahlte Leute und alle respektieren fremdes Eigentum

(Sándor Márai, Land, Land. Erinnerungen, München, 2001).

Korrektorin: Giuanna Egger-Maissen

Bern, 12.9.1848, Verfassung der neuen Konföderation. Fascimile in der Ausstellung ‚Zum Geburtstag viel Recht. 175 Jahre Bundesverfassung‘, Landesmuseum Zürich.